Wenn Gottes Kinder schweigen - Livermore, C: Wenn Gottes Kinder schweigen - Hope Endures
dieser Tabletten, Schwester, und für meine Schulter bringen sie gar nichts.«
»Dann geh noch mal zum Arzt, aber du musst sie einnehmen, bis er dir etwas anderes verordnet.«
Ich marschierte wieder zum Arzt.
»Wenn Sie glauben, der Schmerz in meiner Schulter und meinem Nacken sei nur seelisch bedingt oder dass man nichts dagegen machen kann, dann sagen Sie es mir. Ich kann die Tabletten nicht nehmen, die Sie mir verschrieben haben. Ich werde morgens kaum wach, wenn ich sie einnehme.«
»Warum haben Sie sie dann nicht einfach abgesetzt?«, fragte er mich verdutzt.
»Weil ich unter einer Vorgesetzten lebe, die alle Aspekte meines Lebens kontrolliert. Sie wusste, dass Sie mir Tabletten
verschrieben haben, weil sie sie mir gekauft hat. Sie bestand darauf, dass ich sie einnehme, bis Sie was anderes sagen.«
Ich kehrte nach Hause zurück.
»Schwester, der Arzt hat gesagt, ich soll die Tabletten absetzen.«
Mein Onkel Toby und mein Jugendfreund Paul, beides Franziskanerpriester, besuchten mich Ende September und blieben ein paar Stunden, in denen wir am Flussbett entlang zum Reservat liefen. Ich kochte dort, wo die Männer untergebracht waren, Fish and Chips für meine Besucher, und sprach mit ihnen über mein Bemühen, eine Antwort auf die Verzweifung der jungen Menschen zu finden, doch nicht über meinen eigenen Gefühlsaufruhr.
Die Briefe, die ich nach Hause schrieb, waren oberflächlich. Eine Weile hielt ich den Schein der Normalität aufrecht, aber diese Fassade sollte bald einstürzen. Mutter Teresa schrieb mir völlig unerwartet im Oktober 1983 und kündigte ihren baldigen Besuch an. Sie forderte mich wieder zur völligen Hingabe auf und zwang mich zu lieben, bis es wehtat. Mutter nannte mir in ihrem Brief als Ursache meiner Unzufriedenheit die von uns betreuten Menschen mit ihrer Sauferei und ihren Streitigkeiten. Es waren aber nicht die Menschen, sondern die Lebensweise, die ich nicht mehr aushielt. Dennoch hatte ich die Lektion gut gelernt, dass ich unwürdig und sündig war, weshalb es mir auch so schwerfiel, meinem eigenen Urteil genügend zu vertrauen, eine endgültige Entscheidung zu fällen.
Schwester Gabrielle schrieb mir: »Da gibt es jedoch eine Sache, die ich bei dir nicht verstehe - wenn Gott dir doch
das ECHTE gibt, das Kreuz, warum kannst du es dann nicht annehmen?« Sie kam auf die dunkle Nacht der Seele zu sprechen, wie der heilige Johannes vom Kreuz sie lehrt, und sie meinte, dass auch ich diese Krisenzeit durchstehen müsse, um von Gott geläutert zu werden, und dass es eine Tragödie wäre, jetzt aufzugeben, da Gott mich zu einer tieferen Daseinsebene rief. Diese Idee war heimtückisch, denn sie schmeichelte mir. Doch mir war klar, dass ich weder besser noch heiliger wurde, sondern einfach zusammenbrach.
Schwester Patience, meine Vorgesetzte, wusste, dass ich labil war. Als sie erkrankte und ins Krankenhaus musste, übernahm ich zusätzlich zu meinen Aufgaben die ihren. Da ich häufig in der Stadt zu tun hatte und Schwester Patience die Kosten für eine Briefmarke nach Indien nicht auffallen würden, die ich pflichtschuldig ins Rechnungsbuch eintrug, bat ich diesmal nicht erst um Erlaubnis, Mutter schreiben zu dürfen, aus Furcht, man würde wieder Druck auf mich ausüben. Ich hatte schon zu oft nachgegeben.
Im November, kurz vor meinem neunundzwanzigsten Geburtstag, schrieb ich und bat, mich von meinen Gelübden zu entbinden. Die Gründe hätten eindeutiger nicht sein können. Ich verließ den Orden nicht wegen eines gelegentlichen persönlichen Zusammenpralls mit einer Vorgesetzten oder weil ich in Bourke unglücklich war, sondern wegen der restriktiven Strukturen und Verhaltensweisen innerhalb der Gemeinschaft. Meinem Gefühl nach verfehlte der Orden seine Raison d’être, Mitgefühl zu zeigen, und zwar sowohl für die eigenen Mitglieder wie auch für die Armen. Man hatte mich gelehrt, dass ein leidendes
menschliches Wesen heilig war, die Verkörperung Christi selbst. Nichtsdestotrotz wurde von mir erwartet, das Flehen eines Mannes, dessen Freund inmitten von Methanolfaschen tot am Boden lag, zu ignorieren, sterbende Kinder wegzuschicken, einen Mann links liegen zu lassen, der an Ruhr erkrankt auf der Straße im Sterben lag, mich zu verschließen und zu gehorchen, egal was man mir befahl oder wie dumm der Befehl auch war. Der Orden verlangte von mir, auf selbstständiges Denken zu verzichten, zensierte alles, was ich las, betrieb eine Art von Gehirnwäsche, die mich fast schon in
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