Wenn Ich Bleibe
streichelte meine Haarsträhnen, die unter der Perücke herausgeschlüpft
waren. »Du bist diejenige, die ich mag. Du bist zwar heißer angezogen und plötzlich zur Blondine geworden, und das ist anders als sonst. Aber die Person, die du heute Nacht bist, ist dieselbe, die ich gestern geliebt habe, dieselbe, die ich morgen lieben werde. Ich liebe deine Verletzlichkeit und deine Stärke, deine Schweigsamkeit und deinen Übermut. Verdammt, du bist eine der heißesten Frauen, die ich kenne, egal, was für Musik du hörst oder wie du dich anziehst.«
Jedes Mal, wenn ich danach an Adams Gefühlen zu zweifeln begann, dachte ich an meine Perücke, die in meinem Schrank verstaubt, und dieser Gedanke brachte die Erinnerung an jene Nacht zurück. Und dann fühlte ich mich nicht mehr unsicher. Ich fühlte mich nur noch glücklich.
19.13 Uhr
Er ist hier.
Ich habe mich in ein leeres Zimmer in der Entbindungsstation zurückgezogen, so weit wie möglich von meinen Verwandten entfernt und noch weiter von der Intensivstation und dieser Krankenschwester, besser gesagt: von dem, was sie gesagt hatte und was ich jetzt verstehe. Ich musste irgendwohin, wo die Menschen nicht traurig sind, wo sich die Gedanken um das Leben drehen, nicht um den Tod. Und so kam ich hierher, in das Reich der brüllenden Babys. Das Geheul der Neugeborenen ist irgendwie beruhigend. In ihnen steckt jetzt schon so viel Kampfgeist.
Aber in diesem Zimmer ist es still. Ich sitze auf der Fensterbank und starre in den Abend hinaus. Ein Auto biegt mit quietschenden Reifen in die Einfahrt zum Parkhaus ein und rüttelt mich aus meinen Gedanken. Ich spähe hinunter und erhasche noch einen Blick auf die Rücklichter eines rosafarbenen Wagens, der in der dunklen Abfahrt verschwindet. Sarah, die Freundin von Liz, der Schlagzeugerin von »Shooting Star«, hat einen pinkfarbenen Dodge. Ich halte den Atem an und
warte, dass Adam aus dem Tunnel auftaucht. Und dann ist er da, kommt die Rampe hinaufgelaufen, kauert sich in der Kälte des Winterabends in seine Lederjacke. Ich kann die Kette, an der seine Brieftasche befestigt ist, im Flutlicht schimmern sehen. Er bleibt stehen und dreht sich zu jemandem um. Ich sehe die Gestalt einer Frau aus dem Schatten auftauchen. Zuerst meine ich, es sei Liz. Aber dann sehe ich den Zopf.
Ich wünschte, ich könnte sie in den Arm nehmen. Um ihr zu danken, dass sie immer weiß, was ich brauche, manchmal noch vor mir.
Natürlich würde Kim zu Adam gehen, um ihm die Nachricht persönlich zu überbringen. Sie würde ihn nicht anrufen. Dann würde sie ihn herbringen, hierher, zu mir. Es war Kim, die als Einzige wusste, dass Adam heute in der Stadt spielen würde. Kim, die ihre Mutter irgendwie dazu überredet hat, sie in die Innenstadt zu fahren. Kim, die Mrs Schein danach offensichtlich nach Hause geschickt und ihr die Erlaubnis abgerungen hat, bei mir und Adam zu bleiben. Ich weiß noch, dass Kim zwei Wochen Überredungsarbeit hatte leisten müssen, um mit ihrem Onkel in diesen Helikopter steigen zu dürfen, also bin ich einigermaßen beeindruckt, dass sie diese Herkulesarbeit innerhalb weniger Stunden vollbracht hat. Es war Kim, die alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um Adam zu finden. Und Kim, die es auf sich genommen hat, Adam die Wahrheit zu sagen.
Ich weiß, es klingt lächerlich, aber ich bin froh, dass
ich es nicht sein musste. Ich glaube nicht, dass ich es ertragen hätte. Kim musste es an meiner Stelle tun.
Und jetzt ist er endlich hier. Dank ihr.
Den ganzen Tag lang habe ich mir Adams Ankunft vorzustellen versucht, und in meiner Fantasie eile ich ihm entgegen und begrüße ihn, auch wenn er mich nicht sehen kann und auch wenn es – soweit ich beurteilen kann – ganz anders ist als in diesem romantischen Film Ghost , wo Sam, der Tote, durch seine Geliebte hindurchläuft, damit sie seine Gegenwart spüren kann.
Aber jetzt, da Adam gekommen ist, bin ich wie gelähmt. Ich habe Angst, ihn zu sehen. Sein Gesicht zu sehen. Ich habe Adam zweimal weinen sehen. Einmal, als er sich Das Leben ist schön angeschaut hat. Und das zweite Mal, als wir in einer U-Bahn-Station in Seattle standen und erlebten, wie eine Mutter ihren kleinen Sohn anschrie und schlug. Er wurde ganz still, und erst als wir weitergingen sah ich die Tränen über seine Wangen rollen. Und es zerriss mir fast das Herz. Wenn er jetzt weint, wird es mich umbringen. Dann können wir die Sache mit der freien Entscheidung vergessen. Das allein wird der Nagel zu meinem Sarg
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