Wenn Ich Bleibe
wird’s dann wirklich so sein.«
Als ich das Stück von Dvořák dreimal durchgespielt hatte, beschloss ich, dass ich nicht nur zu seinem Auftritt kommen, sondern dass ich mir diesmal so viel Mühe geben würde, seine Welt zu verstehen, wie er es mit meiner tat.
»Ich brauche deine Hilfe«, sagte ich an diesem Abend nach dem Essen zu meiner Mutter, während wir gemeinsam das Geschirr spülten.
»Ich glaube, ich habe dir schon mehrmals klargemacht, dass ich eine Niete in Trigonometrie bin. Vielleicht kannst du dir diese Online-Nachhilfesache mal anschauen«, sagte meine Mutter.
»Nicht in Mathe. Ich brauche deine Hilfe bei etwas anderem.«
»Ich werde mein Bestes geben. Was brauchst du?«
»Eine Auskunft. Wer ist die coolste, heißeste, schärfste Rockerin, die du dir vorstellen kannst?«
»Debbie Harry«, sagte meine Mutter.
»Da…«
»Ich bin noch nicht fertig«, unterbrach sie mich. »Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich nur eine nennen darf. Das ist ja Erpressung. Kathleen Hannah. Patti Smith. Joan Jett. Courtney Love, auf ihre eigene irre, selbstzerstörerische Art. Lucinda Williams, obwohl sie eine Countrysängerin ist – sie ist hart wie Stahl. Kim Gordon von »Sonic Youth« – fast fünfzig und noch voll dabei. Cat Power. Joan Armatrading. Warum fragst du? Ist das irgendein Gemeinschaftskunde-Projekt?«
»So in der Art«, antwortete ich und trocknete einen Teller ab, der am Rand einen leichten Sprung hatte. »Es ist wegen Halloween.«
Meine Mutter klatschte entzückt in die schaumigen Hände. »Du willst dich als eine von uns verkleiden?«
»Ja«, sagte ich. »Kannst du mir dabei helfen?«
Meine Mutter machte im Büro früher Schluss, damit wir eine Tour durch die Secondhandläden machen konnten. Sie beschloss, dass wir uns auf ein allgemeines Rock-Outfit konzentrieren würden, statt eine Künstlerin darzustellen. Wir kauften ein Paar enge Hosen aus Eidechsenhaut und eine blonde Bubikopfperücke mit einem langen Pony, wie ihn Debbie Harry in den frühen 1980ern getragen hatte. Meine Mutter färbte lilafarbene Strähnen in die Perücke. Dann erstanden wir ein breites schwarzes Lederarmband für das eine Handgelenk und etwa zwei Dutzend Silberarmreifen für das andere. Meine Mutter fischte ihr eigenes Original-Velvet-Underground-T-Shirt
aus dem Kleiderschrank und befahl mir, es unter keinen Umständen auszuziehen, weil sie Angst hatte, dass man es stehlen und bei eBay verhökern würde. Zum Schluss gab sie mir noch die schwarzen, spitz zulaufenden Nieten-Lederstiefel, die sie bei ihrer Hochzeit getragen hatte.
An Halloween schminkte sie mich. Sie zog mir dicke Eyeliner-Striche, die meine Augen gefährlich aussehen ließen. Weißer Puder, mit dem meine Haut bleicher wirkte. Blutroter Lippenstift. Ein falscher Nasenring. Als ich in den Spiegel schaute, blickte mir daraus das Gesicht meiner Mutter entgegen. Vielleicht lag es an der blonden Perücke, aber zum ersten Mal sah ich tatsächlich wie ein Mitglied meiner Familie aus.
Meine Eltern und Teddy empfingen Adam unten, während ich in meinem Zimmer blieb. Es war, als würde er mich zum Abschlussball abholen. Mein Vater hatte die Kamera parat. Meine Mutter tanzte förmlich vor Aufregung. Als Adam durch die Haustür trat und Teddy eine Tüte Kaugummis über den Kopf schüttete, riefen mich meine Eltern nach unten.
Ich schwang die Hüften, so gut ich es in den hochhackigen Stiefeln vermochte. Ich erwartete, dass Adam die Augen aus dem Kopf fallen würden, wenn er mich sah – seine Freundin, die normalerweise nur Jeans und Sweatshirts trug, aufgedonnert wie eine Diva. Aber er lächelte nur wie üblich zur Begrüßung und kicherte ein bisschen. »Nettes Kostüm« war alles, was er sagte.
»Quid pro quo«, sagte ich und deutete auf sein Mozart-Outfit.
»Du siehst zum Fürchten aus, aber hübsch«, sagte Teddy. »Ich würde ja auch ›sexy‹ sagen, aber ich bin dein Bruder, und da gehört sich das nicht.«
»Woher weißt du überhaupt, was ›sexy‹ heißt?«, fragte ich ihn. »Du bist acht Jahre alt.«
»Jeder weiß, was ›sexy‹ heißt«, behauptete er.
Jeder außer mir, dachte ich. Aber in dieser Nacht lernte ich es. Als wir mit Teddy auf Süßigkeitenjagd gingen, erkannten mich unsere Nachbarn, neben denen wir seit Jahren lebten, nicht wieder. Jungen, die mir niemals einen zweiten Blick zugeworfen hatten, drehten sich nach mir um. Und jedes Mal, wenn das geschah, fühlte ich mich ein bisschen mehr wie die unbekümmerte
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