Wenn Ich Bleibe
und sterbenden Menschen gebracht hat, um sie aufzumuntern. Vielleicht sollte jedes Krankenhaus eine Horde aufrührerischer Punks engagieren, sozusagen als lebende Herzschrittmacher für dahinvegetierende Patienten.
Vor den Aufzügen bleiben sie stehen, warten ewig auf einen leeren Fahrstuhl, der sie alle gemeinsam nach oben bringt. Ich will neben meinem Körper sein, wenn Adam auf die Intensivstation kommt. Ich frage mich, ob ich in der Lage sein werde, seine Berührung zu fühlen. Während sie mit dem Fahrstuhl nach oben fahren, nehme ich die Treppe.
Ich bin seit mehr als zwei Stunden nicht mehr auf der Intensivstation gewesen. Es hat sich einiges verändert. In einem der vormals leeren Betten liegt ein neuer Patient, ein Mann in mittleren Jahren, dessen Gesicht aussieht wie ein surreales Gemälde: Eine Seite ist völlig
normal, sogar attraktiv, und die andere ist ein Brei aus Blut, Verbandsmull und Stichen, als ob ihm jemand das halbe Gesicht weggeschossen hätte. Vielleicht ist es tatsächlich eine Schusswunde. In dieser Gegend passieren eine Menge Jagdunfälle. Einer der anderen Patienten, der so in Verbandszeug eingewickelt war, dass ich nicht erkennen konnte, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, ist weg. Stattdessen liegt da eine Frau, deren Hals von einem dieser komischen Kragen umschlossen ist.
Was mich betrifft, so hat man das Beatmungsgerät von meinem Körper abgetrennt. Ich weiß noch, dass die Sozialarbeiterin meiner Familie erklärte, das sei ein gutes Zeichen. Ich bleibe stehen und prüfe nach, ob ich irgendetwas fühlen kann, aber das ist nicht der Fall, jedenfalls nicht körperlich. Ich fühle nichts mehr, seit ich heute Morgen in dem Wagen gesessen und mir Beethovens Cellosonate Nummer drei angehört habe. Da ich jetzt wieder eigenständig atmen kann, wird wesentlich seltener an einer der Maschinen, die meinen Körper kontrollieren, der Alarm ausgelöst, was bedeutet, dass ich seltener Besuch von einer Krankenschwester bekomme.
Schwester Ramirez, diejenige mit den langen, angemalten Fingernägeln, schaut hin und wieder nach mir, aber die meiste Zeit ist sie mit dem Mann mit dem halben Gesicht beschäftigt.
»Heiliger Strohsack! Ist das Brooke Vega?«, höre ich jemanden mit gekünstelt dramatischer Stimme ausrufen,
irgendwo vor den automatischen Türen der Intensivstation. Ich habe noch nie einen von Adams Freunden so geschwollen reden hören. Wahrscheinlich ist das die Krankenhausversion von »Ach du Scheiße«.
»Du meinst Brooke Vega von ›Bikini‹? Brooke Vega, die letzten Monat auf dem Cover vom Spin-Magazine war? Hier im Krankenhaus?« Diesmal ist es Kims Stimme. Sie klingt wie eine Sechsjährige, die auswendig gelernte Zeilen über gesunde Ernährung vorträgt: »Du meinst also, man soll fünfmal am Tag Obst und Gemüse essen?«
»Ja, ganz richtig«, erklingt Brookes Reibeisenstimme. »Ich bin hier in Portland, um den Leuten mal so richtig einzuheizen.«
Ein paar von den jüngeren Schwestern, die vermutlich Popmusik mögen, MTV schauen und schon von »Bikini« gehört haben, schauen hoch. Ihre Gesichter sehen aus wie aufgeregte, leuchtende Fragezeichen. Ich höre sie flüstern, begierig darauf zu sehen, ob es wirklich Brooke ist. Vielleicht sind sie auch nur froh über die unerwartete Abwechslung.
»Genau. Das ist richtig. Ich dachte, ich könnte was für euch singen. Einen meiner Lieblingssongs. Er heißt ›Eraser‹«, sagt Brooke. »Könnte einer von euch mich einzählen?«
»Ich brauche was, womit ich trommeln kann«, sagt Liz. »Hat jemand von euch Kulis dabei oder so was Ähnliches?«
Jetzt sind die Schwestern und die Aufsichtspersonen der Intensivstation richtig neugierig geworden und steuern auf die Tür zu. Ich schaue zu, als ob ich mir einen Film im Fernsehen ansehen würde. Ich stehe neben meinem Bett. Meine Augen liegen unbeirrt auf der Doppeltür. Ich warte darauf, dass sie sich öffnet. Ich kann es kaum noch abwarten. Ich denke an Adam, wie besänftigend es sich anfühlt, wenn er mich berührt, wie ich zu einer Pfütze zerschmelzen könnte, wenn er selbstvergessen meinen Nacken streichelt oder mir seinen warmen Atem auf die kalten Hände haucht.
»Was ist hier los?«, fragt die ältere Oberschwester. Plötzlich schaut jede Schwester nur sie an, nicht mehr Brooke. Niemand versucht, ihr klarzumachen, dass da draußen ein berühmter Popstar steht. Der Moment ist vorbei. Ich fühle, wie sich die Erregung in Enttäuschung wandelt. Die Tür wird sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher