Wenn ich dich gefunden habe
hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Cora dagegen zögerte keine Sekunde. Sie sprang auf, stürzte sich auf ihn und schlang ihm die langen Arme um den Hals. Ihre Tränen benetzten seine Halsbeuge. Es fühlte sich unangenehm warm an, juckend und klebrig. Am liebsten hätte er sie von sich geschoben und sich mit dem Geschirrtuch abgetrocknet.
Cora hing schluchzend an ihm wie eine Napfschnecke an einem Fels, während Stanley mit hängenden Armen dastand und es über sich ergehen ließ. Durch ihre Haare hindurch sah er den Topf mit den Kartoffeln, sah, wie das Wasser in Wellen über den Rand schwappte, sodass die Gasflamme darunter verlöschte. Sein Blick wanderte zur Küchenuhr. Er musste sich sputen, wenn das Essen rechtzeitig auf dem Tisch stehen sollte – Sissy hatte um acht ein Date mit Raymond, einem Sportjournalisten, der gelegentlich auch Nachrufe schrieb.
»Es ist kein Date«, hatte sie störrisch behauptet. »Ich
habe keine Dates mit Männern, die Raymond heißen. Dieser Name geht ja echt gar nicht.«
Doch es war sehr wohl ein Date. Ihr erstes Date seit über einem Jahr, und Stanley wollte nicht, dass sie mit leerem Magen hinging. Sissy tendierte dazu, bockig zu werden, wenn sie Hunger hatte, und auch eine Spur direkter als sonst. Beides war für ein erstes Date eher hinderlich, fand Stanley. Er begann, bis zehn zu zählen, ganz langsam. Vielleicht hörte Cora auf zu weinen bis er bei zehn war.
Und wenn nicht?, meldete sich seine innere Stimme zu Wort, die stets sehr direkt und bockig war, ob hungrig oder satt.
Fünf … sechs … sieben … Er beschloss, erst darüber nachzudenken, wenn er bei zehn angelangt war.
Acht … neun …
Er war gerade bei zehn angekommen, als Cora drei Dinge tat.
Sie hörte auf zu weinen.
Sie lockerte ihren ringerähnlichen Griff um seinen Hals und tastete ihre Rocktaschen nach einem Taschentuch ab, bis Stanley ihr die Schachtel Kleenex reichte, die auf der Anrichte stand. Cora wischte sich die verschmierte Wimperntusche von den Wangen, und dann …
… küsste sie ihn.
Und zwar nicht wie beim letzten Mal ganz sanft und flüchtig auf den Mundwinkel. Das hier war kein Kuss, der die Grenzen zwischen platonisch und unangebracht verschwimmen ließ. Er war eindeutig absolut unplatonisch und total unangebracht. Wild. Direkt. Nachdrücklich. Mit Zunge und allem Drum und Dran. Stanley stand einen Augenblick wie versteinert da, die Kleenex-Schachtel in
der Hand. Als er später daran zurückdachte, fragte er sich, warum er nicht sofort reagiert hatte. Woran hatte er gedacht? Er konnte sich nicht erinnern. Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und sein Hirn einfach außer Gefecht gesetzt.
Stromausfall.
Systemzusammenbruch.
Er kam erst wieder zu sich, als Coras Hand nach unten wanderte und nach dem Reißverschluss seiner Hose tastete.
Da ließ er die Schachtel fallen, legte Cora fest die Hände auf die Schultern und schob sie von sich, bis sich ihre Lippen mit einem feuchten Schmatzen von seinem Mund lösten. Er sah sie an. Ihre Wangen waren gerötet, von Tränen weit und breit keine Spur. Sie lächelte.
»Cora, ich glaube, es wäre besser, wenn …«
»Ich gehe jetzt, Stanley«, sagte sie, noch immer lächelnd. Ein vielsagendes Lächeln. »Wir sehen uns dann am Samstag.«
»Aber …«
»Ich kann die Party unmöglich abblasen. Dafür ist es zu spät. Es ist schon alles organisiert, und es kommen eine Menge Leute, die kann ich doch nicht enttäuschen.«
So, wie sie das sagte, klang es völlig einleuchtend. Pragmatisch.
Die Tür schwang auf, und Sissy kam herein. »Entschuldigt, ich wollte nur mal sehen, ob das Essen schon fertig ist. Riecht es hier nicht irgendwie angebrannt?«
Sie hatte recht. Stanley hatte die Würstchen vergessen, die unter dem Grill lagen und inzwischen völlig verkohlt waren. Die konnte man nur noch wegwerfen. Nicht einmal Clouseau würde sich mehr für sie interessieren.
»Ich wollte gerade gehen«, flötete Cora. Sie zwinkerte Stanley zu und schenkte Sissy ein so strahlendes amerikanisches Zahnpastalächeln, dass diese unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Wir können unsere Unterhaltung ja irgendwann nächste Woche fortführen, wenn du mal Zeit hast«.
»Aber … Was … Ich meine …«
Doch Cora war bereits auf und davon.
42
Dara war zuletzt am Flughafen gewesen, als sie mit Angel zu einer Salsashow nach London geflogen war. Das war noch vor der Streptokokkeninfektion und der Entdeckung der fehlenden Niere
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