Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
und wie immer Blätter von irgendwelchen Pflanzen abreißt. Sein Verhalten befremdet sie ebenso, wie vieles hier für uns fremd ist. Ich rufe Andrea zu mir, weil ich ihm erklären will, dass uns in Mexiko nicht sehr häufig grelle Beleuchtungen blenden werden, dass die Armut hier den Menschen die Lebensgrundlage abschneiden kann wie die Schere einen Faden.
Dem Anschein nach hört er mir nicht zu, doch ich weiß, dass er alles speichert, was ich sage. Auch die zwei Bettler hat er zwar nur flüchtig angesehen, aber er hat sich das Bild eingeprägt und wird sich bestimmt noch sehr lange an jedes Detail dieser Begegnung erinnern.
Am Abend türmen sich Wolken über der Stadt, wir essen unter alten Arkaden an Tischen, die von Mariachis umgeben sind, Musikern in eleganter dunkler Uniform mit Violinen und Gitarren, die sehnsuchtsvolle Lieder spielen. Ich trinke einen Coctelito aus Aguardiente und Obstsaft, Andrea ein Mineralwasser.
Die Nacht inszeniert ein spektakuläres Gewitter für uns, zuckende Blitze und Donner wie Paukenschläge. Im Hotel schreibe ich, surfe im Internet, Andrea ist ruhig.
Ich kann nicht einschlafen, denn ich bin noch ganz aufgewühlt. Durchs Fenster starre ich in den schrägen, peitschenden Regen im Licht der Straßenlaternen. Als mein Blick weiter nach unten wandert, bemerke ich die Obdachlosen, die sich, so gut es geht, vor der Sintflut verkriechen. Ich denke an Andrea: Wenn er eines Tages niemanden mehr hätte, der sich um ihn kümmert…, würde er dann auch so enden?
Ich sehe einen armen Teufel, der sich vorwärtsschleppt. Als auch er in den Lichtkegel einer Laterne eintritt, meine ich, sein Gesicht zu sehen, von schwarzen Streifen durchfurcht, als hätte er Kohletränen geweint. Fetzen von Plastiktüten ersetzen ihm den Regenmantel. Seine Bewegungen sind langsam, starr, minimal. Mit der Handfläche schlägt er fünf- oder sechsmal gegen die großen Scheiben des Hotels, nach einer Minute noch mal, und noch mal. Sein Verhalten ist dem von Andrea sehr ähnlich, so als folgten beide einer traurigen Melodie, die sie im Kopf haben. Wer weiß, wer dieser Mann ist, wie alt er ist, wie er lebt und wo er schläft und wovon er sich ernährt. Ob er jemals mit jemandem spricht? Gibt es wirklich Menschen, die so leben?
Angesichts solcher Tatsachen fühle ich mich verloren.
Wir im Hotel, im Warmen, mit bequemen Betten, Wasser, so viel wir wollen, Kühlschrank und allem Übrigen. Und manchmal beklage ich mich auch noch!
Am liebsten möchte ich hinuntergehen, diesen Menschen zu uns heraufholen, ihn verwöhnen: Ich stelle ihn unter die heiße Dusche, suche einen Pullover für ihn, päpple ihn ein bisschen auf. Ich will etwas für ihn tun. Es muss einen Grund geben, dass ich ihn gerade diese Nacht gesehen habe. Ich werfe einen Blick auf Andrea, er schläft. Ich ziehe mich an, nehme den Anorak und gehe hinaus auf die Straße. Der Mann ist verschwunden. Unmöglich! Er bewegte sich so langsam und hat sich in nichts aufgelöst! Ich renne ein paar Meter, wo mag er hingekommen sein, wenn die Straße so gerade und leer ist? Niedergeschlagen kehre ich ins Zimmer zurück. Andrea schläft immer noch: Er wälzt sich im Bett, ist unruhig, vielleicht träumt er.
Ich schaue zum letzten Mal aus dem Fenster, bin mir jedoch sicher, dass der Mann unwiederbringlich fort ist, unsere Lebenswege haben sich kurz berührt, jetzt sind sie schon wieder auseinandergedriftet.
O teures Benzin
Benommen stehe ich auf, die Nacht hat einen bitteren Geschmack in mir hinterlassen. Andrea dagegen ist in Hochform. Aktiv und bereit für den Tag. Vermutlich hat er großen Appetit. Also los, wie immer.
Ausgezeichnetes Frühstück im Café: Der starke Espresso bringt mich in Schwung, und die zwei Mädchen hinter der Theke bombardieren uns mit Fragen, woher kommt ihr, wohin fahrt ihr, so ganz allein ohne Frauen, wie kommt das denn, langweilt ihr euch nicht? Hier, probier doch mal diesen Kuchen, und Andrea nimmt ihn, unglaublich, einen weißen Kuchen, ich hätte nicht gedacht, dass er den mögen könnte, noch nie hat er Kuchen von dieser Farbe gegessen. Vorsichtshalber probiere ich ihn ebenfalls: Er ist hervorragend. Andrea nimmt sogar noch ein zweites Stück.
Im Auto, weiter geht’s. Elf Stunden fahre ich durch Berge und winzige Dörfchen. Siedlungen mit wenigen Bewohnern, bäuerliche Landschaften, wie wir sie von ganz früher kennen: Vieh, das die Straße überquert, von Maultieren gezogene Karren, nackte Kinder auf den Wegen, schäbig
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