Wenn moeglich bitte wenden - Abenteuer eines Autofahrers
keine Störung an. Nach einer Viertelstunde eisigen Schweigens begann Sylvia zu jammern, dass sie es nicht mehr aushalte. Seit dem abrupten Stopp waren sie keinen Zentimeter weitergekommen. Offenbar war die Autobahn vollständig gesperrt, jedenfalls tauchten auch auf der Gegenfahrbahn weiterhin keine Fahrzeuge auf. Harald stieg aus dem Wagen und schaute sich um. Die Stelle war für eine Frau mit einem dringenden Bedürfnis wirklich sehr ungünstig. Weit und breit gab es keinen Strauch, dafür aber Hunderte gelangweilter Autofahrer, die für jede Abwechslung dankbar wären. Auch Harald ging durch den Kopf, dass ihm diese Situation eigentlich unverhofft gewisse Einblicke verschaffen könnte, die er sich nach dem ganzen Theater der letzten Stunden auch redlich verdient hätte.
Inzwischen war Sylvia ausgestiegen und zog ein verbissenes Gesicht. Harald schaute sie achselzuckend an. »Blöde
Stelle hier«, meinte er und blickte in die Ferne. Sylvia schüttelte ärgerlich den Kopf, dann stolzierte sie plötzlich in ihren Stilettos über den Randstreifen und die Grasnarbe auf das sich neben der Autobahn ausbreitende Feld. »Das hat doch keinen Sinn, komm zurück«, rief Harald ihr nach, doch Sylvia antwortete nicht. Harald war hin- und hergerissen. Eigentlich hätte er mitgehen müssen, aber er hatte Angst, den Wagen allein zu lassen. Bestimmt würde sich der Stau genau in dem Moment auflösen, in dem er am weitesten weg war. Also blieb er ratlos neben der offenen Fahrertür stehen und beobachtete Sylvia, wie sie mit sehr merkwürdigen Bewegungen das Feld überquerte. Schließlich blieb sie in etwa einem Kilometer Entfernung an einem Busch oder Baum stehen. Dort stand ein Traktor, und Sylvia sprach offenbar mit dem Bauern, der darauf saß. Dann verschwand sie hinter dem Strauch, wobei man sie dabei selbst aus dieser Entfernung noch zur Hälfte sehen konnte. Interessiert bemerkte Harald, dass inzwischen eine ganze Reihe von Frauen über das Feld humpelte.
Im Radio kam die nächste Verkehrsdurchsage. Diesmal war auch die A2 dabei. »Wir haben mal wieder zehn Kilometer zwischen Bad Eilsen und Rehren oder Rehren und Bad Eilsen, je nachdem, wie herum Sie stehen, ist völlig egal«, witzelte der Moderator. »Grund ist... Moment, ah ja, eine Vollsperrung, die Ursache leider noch unklar. Na, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Pfingstsamstag«, höhnte der Radiosprecher. Harald sah Sylvia zurückhumpeln. Er konnte irgendwie kein Mitleid für die Frau empfinden, seine Begeisterung für den Pfingstausflug war auf den Gefrierpunkt gesunken. »Was für eine Zeitverschwendung«, schimpfte er
mit sich selbst. Jetzt stand Sylvia vor ihm. Sie schaute ihn zornig an. Die weiße Jeans war an den Fußenden eingeschlammt, in der Hand hielt sie einen abgebrochenen Schuhabsatz. »Ich brauche neue Sachen«, schäumte sie, und ihr Blick ließ keinen Zweifel daran, wer an dieser Katastrophe schuld war. Schicksalsergeben ging Harald zum Kofferraum. »Welcher ist es?«, fragte er emotionslos. Es war natürlich der hintere der beiden Koffer. Der Schmerz in der Wirbelsäule war kaum zu ertragen. Sylvia wühlte in ihren Klamotten und zog schließlich zwei ebenfalls extrem hochhackige schwarze Schnürsandalen an. »Die passen nicht zur Jeans, aber ich zieh mich hier bestimmt nicht um«, zürnte sie vorwurfsvoll. Harald schwieg. Sie stiegen wieder in den Wagen.
Eine Stunde verging, langsam setzte bei Harald der Hunger ein. Sylvia hatte seit dem Schuhwechsel kein Wort mehr gesprochen. Nie war eine Verbindungstür zwischen zwei Hotelzimmern gesicherter gewesen. Harald überlegte, ob es in dem Epremo irgendetwas Essbares geben könnte. Doch ihm fiel nur das Stück Chilischokolade ein, das immer noch an Sylvias Po klebte, und das glücklicherweise nach wie vor unbemerkt. Harald zog seinen Organizer hervor. Auf einer Verkehrswebsite fand er heraus, dass der Stau nun 15 Kilometer Länge hatte. Es gab erste Staucommunities und mindestens 500 Einträge bei Twitter. »Mit was sich die Leute beschäftigen«, schüttelte Harald heftig den Kopf, als er den Eintrag von Lolle26 las: »Hey, suche nette Leute im Stau bei Bad Eilsen zum Quatschen und Zwitschern.« Auf einer anderen Site hatten User die besten Staubilder zusammengestellt. Harald blickte nach links. In dem rotbraunen VW Touran, der neben ihm stand, saßen drei halbwüchsige Mädchen
im Gothic-Look, die ihn kalt anstarrten. Die kleinste richtete ihr Fotohandy auf ihn. Harald drehte schnell seinen
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