Wenn nur dein Lächeln bleibt
um fünf nicht innerhalb von drei Minuten angezogen zum Appell auf dem Hof stand. Er hatte mit Sicherheit das schwerere Los gezogen.
»Heute war ich mit Anja beim Kinderarzt, zum Routinetermin. Er hat alle Reflexe untersucht und gemeint, sie sei völlig in Ordnung«, schrieb ich meinem Mann. »Es war so süß, Bernd! Er hat unsere kleine Tochter unter den Achseln gepackt, sie hochgehoben und mit ihren Beinchen auf einer Matte Schritte machen lassen! Sie wird eines Tages laufen lernen, genau wie alle anderen Babys auch! Ach, Bernd, wir haben uns völlig grundlos Sorgen gemacht! Alles wird gut, mein geliebter Mann! Halte durch, wir lieben Dich! Wir zählen die Tage, bis du zum ersten Mal zu Besuch kommen darfst. Deine Anja und Deine Angela. PS: Komm gesund heim!«
Mein nächster Brief war besonders euphorisch: »Liebster Bernd! Unsere wundervolle, vier Monate alte Tochter hat heute zum ersten Mal Brei gegessen! Stell Dir vor: Ich hatte solche Angst, sie könnte wieder Erstickungsanfälle kriegen, dass ich meine Mutti gebeten habe zu kommen. Sie ist extra mit der Straßenbahn angereist, um mir in besagtem Moment beizustehen. Aber dann ging alles wie von selbst. Mutti stand in der Tür, stets bereit, sofort den Krankenwagen zu rufen, als unsere Anja ganz selbstverständlich ihr Mäulchen aufgerissen und mit großen, staunenden Augen ihren ersten Löffel Grießbrei geschluckt hat! Ich konnte es gar nicht fassen! Mutti meinte nämlich, dass ich früher beim Breiessen großes Theater gemacht und nach meinem vertrauten Fläschchen verlangt hätte. Das Umstellen auf Brei ist nicht jedermanns Sache! Aber unsere kleine Anja war den Löffel längst gewöhnt. Eins zu null! Die Letzten werden die Ersten sein! Hurra! ›Na bitte, geht doch!‹, hat Mutti anerkennend gesagt. Wir sind uns mit Freudentränen in den Augen um den Hals gefallen. Unser Kind isst Brei!! Jetzt sind die ersten Hürden überwunden. Du kannst ein stolzer Vater sein! Nach ihrem Bäuerchen habe ich unsere satte, zufriedene Tochter dann in den Kinderwagen gepackt und Mutti bis zur Straßenbahn haltestelle begleitet. Sie hat mich gemustert und gesagt: ›Mädchen, du bist über dich selbst hinausgewachsen. Du bist erwachsen geworden. Wie Du diese Herausforderung gemeistert hast … Ich bin stolz auf dich.‹ Da sind mir schon wieder die Tränen gekommen, Bernd! Das hat sie doch noch nie gesagt! Ich glaube, durch Anja sind Mutti und ich uns wieder ein ganzes Stück nähergekommen …«
Selbst jetzt, beim Schreiben dieses Briefes, musste ich mir schon wieder über die Augen wischen.
Ja, Anja war mein Lebensglück. Und das würde sie immer bleiben.
» Schauen Sie mal hier, Frau …«
»Hädicke.«
»Ja. Kommen Sie mal rein. Sehen Sie sich diese Röntgenaufnahmen an.«
»Ja? Es ist doch alles in Ordnung?« Nervös starrte ich auf die milchigen Schwarz-Weiß-Bilder an der Wand. Erkennen konnte ich natürlich nichts.
»Sieht ganz so aus, als litte Ihre Tochter an einer beidseitigen Hüftgelenkluxation.«
»Äh … was bedeutet das?« Ich musste schlucken. »Sie … leidet?«
Ich hatte nicht das Gefühl, dass Anja litt. Sie war mein kleiner Sonnenschein.
»Schauen Sie mal: Hier fehlen die Hüftgelenkspfannen.«
Ich starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Röntgenbilder, die vor meinen Augen verschwammen. Bitte nicht!, dachte ich. Bitte nicht schon wieder. Mein Kind ist normal und gesund. Bitte keine Komplikationen.
»Ich verstehe nicht. Welche Konsequenzen hat das?«
»Na, Ihre kleine Tochter will doch laufen lernen, nicht wahr?«
»Ja, natürlich! Die Reflexe sind doch vorhanden!«
»Da werden wir wohl etwas nachhelfen müssen. Ich schreibe Ihnen mal eine Überweisung an die orthopädische Klinik.«
Mein Herz raste, ich war vor Panik wie gelähmt. Klinik? Mein Kind sollte schon wieder in die Klinik?!
»Melden Sie sich dort an, und holen Sie die Meinung der Fachärzte ein.«
Und so kam es, dass ich mich mitsamt meinem Kinderwagen auf dem Weg in die orthopädische Klinik befand. Meine Beine trugen mich mechanisch, obwohl ich kaum glauben konnte, was ich da gerade gehört hatte. »Ihre Tochter will doch laufen lernen, nicht wahr?«
Das Gebäude war in einem scheußlichen Graugrün gehalten. Genauso muss meine Gesichtsfarbe gewesen sein, als ich mich in die Warteschlange einreihte, bis sich endlich eine Ärztin meiner erbarmte.
»Frau Hädicke«, sagte sie mitfühlend, nachdem sie Anjas Akte studiert hatte. »Da haben wir wohl ein kleines
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