Wenn nur dein Lächeln bleibt
aus dem diese brutalen Worte purzelten. Ich wollte mich bücken, um sie aufzuheben und in eine verständliche Reihenfolge zu bringen, aber ich war wie gelähmt. Mein Hände waren taub, in meinen Ohren schrillte ein Pfeifen, und vor meinen Augen verschwamm das Sprechzimmer mit der Ärztin und allem Drum und Dran.
»… in seltenen Fällen kann auch eine Kopfverletzung während der Entbindung zu einem Hirnschaden führen … Ursache der Zerebralparese … Athetose.«
Ich schlug die Hände vors Gesicht und wiegte mich vor und zurück. Sie hatten mich auf dem Gang liegen gelassen! Sie hatten mich volle zwei Tage auf dem Gang liegen gelassen! Ich hatte um Hilfe gebettelt, gewimmert, gefleht, und man hatte mich mit dem Satz abgefertigt: »Stellen Sie sich nicht so an! Sie sind noch lange nicht dran!« Wieder hörte ich, wie die blechernen Stimmen von den gefliesten Wänden widerhallten. Sie trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht: »Vor Ihnen sind mindestens noch fünf Geburten an der Reihe! Schichtwechsel! Keine Ahnung, wovon Sie reden! Sie sind nicht in meiner Schicht gewesen! Wer hat Sie an diesen Wehentropf gehängt? Wie lange sind Sie jetzt über den Termin? Sie sehen doch, dass ich jetzt Feierabend habe! Für heute wird die Maßnahme abgeblasen.
Maßnahme abgeblasen.
Maßnahme abgeblasen.
Die Wehenflüssigkeit muss aber noch durchtropfen, bis die Flasche leer ist. Wo kommen wir denn da hin, wenn wir Volkseigentum vergeuden.
Volkseigentum.
Vergeuden.
In den nächsten Tagen las ich mich in die gesamte medizinische Fachliteratur ein, die ich in der städtischen Leihbücherei auftreiben konnte. Was ich mir auf diese Art mühsam zusammenreimte, war, dass meine kleine Anja, aufgrund des Sauerstoffmangels bei der Geburt, Muskellähmungen in allen vier Extremitäten, aber auch in anderen Körperregionen hatte. Grob gesagt bedeutete das, dass die für die Muskelfunktionen zuständigen Gehirnzellen Anjas zerstört waren. Wie stark ein Kind betroffen war, ergab sich daraus, welche und wie viele Gehirnzellen zerstört waren. Aber zerstört bedeutet auch irreparabel. Nicht behandelbar. Weder operativ noch mithilfe von Medikamenten.
Da eine Regeneration oder Neubildung von Gehirnzellen unmöglich ist, gibt es bei einer zerebralen Lähmung auch keine Heilung.
Keine Heilung.
Keine Heilung.
Keine Heilung.
Immer schneller schaukelte ich auf meinem Stuhl in der Leihbibliothek vor und zurück. Ich konnte das Ausmaß dieser Katastrophe einfach nicht begreifen. Warum hatte man mir nicht geholfen? Warum hatte man mich einfach auf dem Gang liegen gelassen? Ich hatte um einen Kaiserschnitt gebettelt! Sie hätten mein Mädchen retten können! Aber ein Kaiserschnitt war teuer und umständlich – Vergeudung von Staatsgeldern.
Nicht verzweifeln!, hörte ich plötzlich insgeheim Bernds beruhigende Stimme. Nach vorne schauen! Das Beste draus machen! Nicht hadern, keine Schuldzuweisungen. Das hilft weder dir noch unserem kleinen Liebling. Wir schaffen das, meine tapfere starke Frau. Wir werden alles tun, unserem kleinen Mädchen das Leben so schön wie möglich zu machen.
Krankengymnastik , las ich weiter. Krankengymnastik lindert Verspannungen und erhöht die Beweglichkeit spastisch krampfender Muskeln.
Sprachtherapie. Sprachtherapie ist ein wichtiges Hilfsmittel bei Verständigungsschwierigkeiten.
Hilfsmittel!, ging es mir durch den Kopf. Es gab Hilfsmittel . Einige Kinder brauchen Schienen oder andere orthopädische Hilfsmittel. Viele Kinder mit einer kindlichen Gehirnlähmung können eine normale Schule besuchen. Ich klammerte mich an diesen Satz. Na bitte, eine normale Schule!
Meine kleine Anja war doch kein hoffnungsloser Fall. So wie sie mich anlächelte, mir mit den Augen folgte, wie sie auf meine Lieder, meine Zärtlichkeit reagierte, ja so wie sie das Essen vom Löffel gelernt hatte, war meine Anja mit Sicherheit kein schwerer Fall!
Seufzend dehnte ich meine verspannten Glieder und schloss die Augen. Die Hoffnung war zurückgekehrt.
»So ist es gut!«, glaubte ich Bernd sagen zu hören: Bloß nicht schlappmachen, bloß nicht durchhängen. Unsere Anja ist etwas Besonderes, das haben wir vom ersten Tag an gewusst. Aber sie ist auch stark. Sie liebt das Leben. Weil wir sie lieben. Wir schaffen das! Mit diesen positiven Parolen im Kopf schaffte ich es, mein kleines Mädchen jeden Tag in der orthopädischen Klinik zu besuchen.
Gegen die Hüftluxation bekam Anja eine Spreizbehandlung. Dafür wurden ihre Beinchen jeden Tag
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