Wenn nur dein Lächeln bleibt
einem Jahr hatte ich ihm den Strampler und die Babyschühchen auf den Geschenktisch gelegt, und er hatte mich im Zimmer herumgewirbelt vor Freude, Stolz und Glück. Und heute? Ich presste meine Stirn an die kalte Scheibe und starrte auf den Parkplatz und die anderen Plattenbauten hinaus. Was hatten wir alles erlebt und erlitten in diesem einen Jahr? Das Schicksal hatte uns auf eine sehr brutale Art dazu gezwungen, erwachsen zu werden.
Andererseits war unsere Liebe nur daran gewach sen. Sollte ich Bernd schreiben? Dann würde ich mich nicht mehr so allein fühlen. Aber was konnte ich ihm schon schreiben? Was vorgefallen war, durfte ich ihm auf keinen Fall schildern. Er würde sonst vor Kummer und Sorgen vergehen. Die armen Kerle dort in der Kaserne durften ja noch nicht mal im Notfall ein Diensttelefon benutzen. Meine Sehnsucht nach Bernd und meinem Kind wuchs ins Unermessliche. Was musste Anja jetzt durchmachen? Würde man sie liebevoll behandeln? Zärtlich mit ihr sprechen? Waren es warme Hände, die sie anfassten? Oder würde man sie mit ihren kalten Apparaten verstören? Würde man das Vertrauensverhältnis, das wir mühsam zueinander aufgebaut hatten, wieder zerstören? Ich fühlte mich so leer wie noch nie in meinem Leben.
9
»Frau Hädicke?«
»Ja, am Apparat?« Mein ganzer Körper zitterte. Meine Hände waren schweißnass.
»Orthopädische Klinik, Schwester Ilse. Können Sie so schnell wie möglich herkommen?«
»Mit oder ohne Kinderwagen?«, hörte ich mich fragen.
Mein Herz hüpfte mir schier aus dem Mund vor lauter Aufregung. Ein allerletztes Fünkchen Hoffnung keimte in mir auf: Gleich würde sie mir sagen, dass ich mein Kind wieder mit nach Hause nehmen könne, dass alles in bester Ordnung sei.
»Ohne, Frau Hädicke. Geben Sie an der Anmeldung Bescheid, wenn Sie da sind, Sie müssen dann nicht warten.«
Hastig zog ich mir irgendeine Jacke über und rannte zur Bushaltestelle.
Das hatte sich aber gar nicht gut angehört. Bei allem Optimismus, bei aller Zuversicht … die Stimme von Schwester Ilse gab Anlass zur Sorge.
Wie in Trance rannte ich wieder auf dieses scheußliche graugrüne Gebäude zu. Darin lag mein kleines Mädchen! Ich wollte zu Anja, nur zu ihr!
»Also, liebe Frau Hädicke«, – es war wieder die nette Ärztin vom Vortag, die mir den Tipp mit dem Rostbraten gegeben hatte – »wir haben Ihr Kind gründlich untersucht.«
»Ja?« Ich wischte meine Hände unauffällig an meiner Polyesterhose ab.
»Ihre Tochter hat eine Hüftdysplasie, eine Fehlbildung der Hüftgelenkpfanne. Das kann dazu führen, dass der Gelenkkopf aus der Pfanne rutscht. Neben dieser beidseitigen Hüftluxation wurde auch noch eine spastische Lähmung festgestellt.«
»Spastische Lähmung? Wird sie im Rollstuhl sitzen?!«
Nur mühsam konnte ich mich überwinden, diese furchtbaren Worte auszusprechen. Ich begann, Sternchen zu sehen.
»Das lässt sich noch nicht sagen. Das Ausmaß ihrer Behinderung ist noch nicht überschaubar, da sie noch so klein ist.«
Behinderung, hämmerte es in meinem Kopf. Behinderung.
»Aber ich verstehe nicht …«
»Schauen Sie, Frau Hädicke: Die spastische Läh mung ist durch eine Schädigung des Zentralnervensystems bedingt. Sie kann vielfältige Ursachen haben, geht aber meist auf Komplikationen während der Schwangerschaft zurück. Gab es bei Ihnen Komplikationen?«
»Ja!«, wimmerte ich. »Anja war eine Steißlage! Deswegen hatte sie ja so eine schwere Geburt!«
»Sehen Sie.« Die Ärztin warf die Hände in die Luft, so als wäre damit alles geklärt.
»Spastische Lähmungen beruhen auf einer Hirnschädigung. Wenn Sie in der Schwangerschaft oder bei der Geburt Probleme hatten, haben wir es wahrscheinlich mit einer infantilen Zerebralparese zu tun.« Sie redete, als hielte sie einen Vortrag auf einem Ärztekongress. Sie hatte ihren Text gut auswendig gelernt. Ich starrte auf die sich bewegenden Lippen der Ärztin, ohne dass mich ihre Worte erreichten. Sie hätten auch aus dem Mund eines Richters kommen können, der mir gerade mein unvorstellbares Strafmaß vorlas, gespickt mit schrecklichen Fremdwörtern und mir völlig rätselhaften Schlussfolgerungen. Genauso gut hätte sie sagen können: »Weil Sie sich beim Einsteigen in den Bus vorgedrängt haben, werden Sie jetzt standrechtlich erschossen. Sollten Sie das nicht mit Absicht getan haben, besteht noch die Möglichkeit, sich für ›lebenslänglich‹ in Sibirien zu entscheiden.«
Ich starrte einfach nur auf diesen Mund,
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