Wenn nur noch Asche bleibt
„Der Klügere gibt nach, nicht wahr?“
Sie warf einen Blick auf den blonden Jungen, dem sie instinktiv den Namen Nikolai zuordnete. Er schien wütend zu sein und schleuderte ihr fast greifbare Ablehnung entgegen. Warum? Sie kannte ihn nicht einmal. Es gefiel ihr nicht, vor diesen Jungen zu plaudern, aber wenn Daniel es so wollte, dann mochte er mit eventuellen Konsequenzen leben.
„In den siebziger Jahren wurden insgesamt acht Menschen entführt. Sechs Einzelpersonen, ein Pärchen. Von vieren weiß man, dass sie vor ihrer Entführung einen Arzt aufsuchten, der ihre Brandmale behandelte. Dieselben, die unsere Sekte benutzt. Drei der Opfer waren Männer, der Rest Frauen. Ihr Alter variierte stark, auch hier scheint keine Auswahl getroffen worden zu sein. Zwei Gebrandmarkte nahm man unter die Fittiche des Zeugenschutzes, was jedoch nichts nützte. Die Sekte holte sie sich dennoch, wobei die Umstände, wie sie das schafften, bis heute nicht geklärt werden konnten. Wir gehen davon aus, dass mindestens eine Person aus den eigenen Reihen auf der Lohnliste der Sekte stand oder gar in ihr involviert war, diese Person konnte jedoch nie ausfindig gemacht werden. Man fand im Übrigen nur eine einzige Leiche, verborgen unter Treibholz. Offenbar wurde die Sekte in ihrem Ritual gestört, denn normalerweise blieb nichts weiter übrig als von Rauch geschwärzte Felswände und Überreste verkohlten Holzes am Strand. Die Rituale fanden stets am Meer statt. Bei Neumond, bei Vollmond … die Phasen unseres Erdtrabanten waren leider vollkommen egal. Diese Willkürlichkeit machte es schwer, der Sekte auf die Spur zu kommen. Irgendwann hörten die Morde auf und die Sache geriet in Vergessenheit, ohne dass die Vorfälle geklärt werden konnten.“
„Salz und Asche“, murmelte Daniel gedankenversunken.
„Wie bitte?“
„Nichts, reden Sie weiter.“
„Viel gibt es nicht mehr zu erzählen. Man fand damals einen Mann, der aus der Sekte ausgestiegen war. Er war zerfressen von Krebs, daher war es ihm egal, wie man seine Tat ahnden würde. Er weigerte sich jedoch noch auf dem Sterbebett, sein Wissen auszuplaudern. Man erfuhr lediglich, dass es der Sekte um reine Seelen geht. Um Menschen, die in ihren Augen vollkommen sind. Es geht um Wiedergeburt und Erneuerung.“
„Geistig oder körperlich?“
„Natürlich Ersteres. Letzteres ist wohl kaum möglich.“
„Woher wissen Sie das?“
Elena runzelte die Stirn. Angesichts seines Blickes gewann sie das Gefühl, sondiert zu werden wie ein Testobjekt. „Körperliche Erneuerung durch Rituale gehört in den Bereich des Fantastischen.“
„Und woher wissen Sie das?“
„Es ist eben so. Was soll das?“
„Lange hielt der Mensch die Erde für eine Scheibe. Das war eben so. Lange billigte man Frauen einen Verstand zu, der gerade eben dafür reichte, die Beine breitzumachen, dem Mann zu gehorchen und Kinder aufzuziehen. Das war eben so. Lange glaubte man, sich zu waschen, sei gesundheitsschädlich. Viel besser sei es, seinen Gestank zu überpudern und sich mit Parfüm zu übergießen. Das war eben so. Fällt Ihnen was auf? Ein Experte ist ein Mensch, der hinterher genau sagen kann, warum er total falsch lag. Und nie gab es mehr Experten als heute.“
„Ja, ja.“ Elena stieß ein Schnaufen aus. „Schon gut, Schwamm drüber. Zurück zum Fall. Die Leiche, die man fand, gehörte zu einer stark übergewichtigen Frau, die auf die Sechzig zuging. Sie war bei Freunden und Familie dafür bekannt, bedingungslos gutherzig und großzügig zu sein. Ich gehe also davon aus, dass die Sekte auf geistige Vollkommenheit aus war und das Körperliche in den Hintergrund trat.“
„Das war alles?“ Daniel runzelte in offenkundiger Enttäuschung die Stirn.
Es bereitete Elena große Mühe, ihre Augen unter Kontrolle zu halten. Der Anblick des Vogelschnabels, dessen nadelfeine Spitze seine Brustwarze berührte, zog sie magisch an wie das Licht die Motte. Seine Haut schimmerte wie karamellfarbene Seide. Gewiss würde sie sich ebenso anfühlen. Aber verdammt noch mal, das tat absolut gar nichts zur Sache. „Ja“, murmelte sie. „Das war es. Tut mir leid. Was ist das für ein Tattoo? Etwas Indianisches?“
„Nein.“ Er wandte sich um, stieß ein enttäuschtes Seufzen aus und ging zu seinen Schülern hinüber. „Wir reden später weiter, in Ordnung? Fühlen Sie sich so lange wie zu Hause. Oder gehen Sie, wie es Ihnen beliebt. Wobei ich bei der Art, wie sie mich anstarren, von ihrer Anwesenheit
Weitere Kostenlose Bücher