Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
dachte sie an die Kinder in ihrer Schule, die viel mehr Hilfe brauchten als gesunde Kinder. Sie konnte ihre mütterlichen Instinkte darauf verwenden, ihnen das Leben leichter zu machen, und das musste vorläufig genügen.
Sie griff zur Schere und schnitt aus einem Magazin ein Foto von Josie aus. Sie führte darauf einen exklusiven Pullover vor und hielt einen großen Afghanen an der Leine. Wie ein richtiges Mädchen vom Land sah sie aus.
Ellen staunte über ihre schöne, berühmte Schwester immer wieder aufs Neue. War es nicht seltsam, dass sie so unterschiedliche Richtungen eingeschlagen hatten, obwohl sie sich als Kinder so ähnlich gewesen waren?
Sie lächelte in sich hinein. Sooft sie sich sahen, versuchte Josie, sie zu überreden, doch modebewusster zu sein, sich zu schminken oder das Haar anders frisieren zu lassen. Aber das war nicht Ellens Ding. Sie fühlte sich in Jeans am wohlsten und mochte sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, welche Schuhe zu welchem Kleid passten. Es kam zwar vor, dass sie sich zu einem besonderen Anlass schick machte, sich die Nägel lackierte und Make-up auflegte, doch sie hatte keine Lust, sich jeden Tag so aufzutakeln.
Die Männer mochten sie so, wie sie war. Einer, mit dem sie kürzlich ein Techtelmechtel gehabt hatte – Jack hieß er –, hatte sie »Mutter Erde« genannt. Ihr gefiel dieser Vergleich. Außerdem konnte sie ja Fotos von Josie betrachten, wenn sie ein richtiges Glamourgirl sehen wollte, sagte sie sich.
Sie blätterte das Album durch, bis sie zu den Aufnahmen kam, die neunzehnhundertsiebenundsechzig in Südfrankreich entstanden waren. Josie trug ein cremefarbenes Ballkleid aus Seide, dessen tief dekolletiertes Oberteil mit Staubperlen bestickt war, und ein Perlendiadem im Haar. Wie eine Prinzessin sah sie aus. Es war eins von Ellens Lieblingsfotos, weil es ihr einen Blick in eine ihr völlig fremde Welt erlaubte.
Sie wurde oft gefragt, ob sie nicht neidisch auf ihre Schwester sei. Dann lachte sie und antwortete: »Nur auf das Geld, das sie verdient«, aber in Wirklichkeit beneidete sie sie nicht einmal darum, denn Josie war bei allem Erfolg privates Glück versagt geblieben, und das stimmte Ellen traurig.
Das in Südfrankreich aufgenommene Foto war ein gutes Beispiel. Josie sah hinreißend darauf aus, sie hatte in einem Nobelhotel gewohnt und sich unter die Reichen und Schönen gemischt. Aber irgendetwas musste damals vorgefallen sein. Ellen hatte nie herausgefunden, was, und Josie hatte es stets abgestritten. Doch unmittelbar nach dem Südfrankreich-Aufenthalt hatte ihr Drogenkonsum zugenommen.
Ellen verzog das Gesicht. Josie war ein so widersprüchlicher Mensch. Sie konnte der beste Kumpel sein, großzügig und liebevoll, sie konnte aber auch verschlagen, bösartig, berechnend und destruktiv sein. Sie gab Ellen Rätsel auf. Obwohl sie beide gleich erzogen worden waren und sich in vieler Hinsicht so nahe standen, waren sie geistig und charakterlich Welten voneinander entfernt.
Josie hatte sich ihren Kindheitstraum erfüllt, glücklich geworden war sie dabei nicht. Was fehlte in ihrem Leben, dass sie Zuflucht in Alkohol und Drogen suchte?
Ellens Erfahrungen mit Drogen beschränkten sich auf einen gelegentlichen Joint mit Freunden, doch sie wusste, dass viele ihrer Bekannten Speed und LSD nahmen. Der Konsum von Rauschgift war im Zuge der Flower-Power-Bewegung modern geworden. In diesem Punkt unterschied sich Bristol nicht von London. Ellen fand nichts dabei, sich hin und wieder einen kleinen Kick zu verschaffen, solange man die Sache unter Kontrolle hatte.
Aber Josie hatte sie eben nicht mehr unter Kontrolle.
Und es war Mark, der die Verantwortung dafür trug. Ellen vermutete, dass er Josie ganz bewusst mit Drogen in Kontakt gebracht hatte, um sie an sich zu ketten und sie übers Ohr zu hauen. Nach der Rückkehr aus Frankreich hatte sich ihre Beziehung jedoch gewandelt. Zwar wurde Josie nach wie vor ausschließlich von Mark fotografiert, aber privat gingen sie getrennte Wege, und Josie erhielt ihr Honorar direkt von der Agentur. Sie behauptete, froh darüber zu sein, weil sie nun endlich unabhängig war, und sie schien es ehrlich zu meinen. Das konnte also nicht der Grund für ihre Probleme sein. Folglich machte sie sich selbst das Leben schwer.
Ellen griff nach einem Foto, das sie selbst und Josie zeigte und im Hafen von Falmouth beim Pub »The Chain Locker« aufgenommen worden war. Josie hatte den Fotoapparat an jenem Tag gekauft und Passanten
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