Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
die Rolle »Ellen« proben wollen.
Jetzt habe ich niemanden mehr. Meine Familie ist ausgelöscht worden, und ich sitze hier in meiner Wohnung, blicke zurück auf die Bedrücktheit, die Bitterkeit, den Hass und den Neid und suche nach einer Erklärung dafür, dass alle in meiner Familie so kaputt waren.
Ich finde keine. Jeder von ihnen hatte sein Päckchen zu tragen, aber so viele andere Menschen müssen mit größeren Enttäuschungen und tieferem Kummer fertig werden und tragen leichter an ihrer Bürde.
Meine wunderschöne, zerquälte Schwester ist tot, und ich trauere um sie.
Dennoch empfinde ich auch ein wenig Erleichterung, denn jetzt haben ihre Qualen ein Ende. Wie ein Phönix aus der Asche emporsteigt, so werde auch ich ein neues Leben anstreben. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich nach London ziehen und mir das Leben einrichten, das Josie hätte leben können, wenn sie nur klüger gewesen wäre.Daisy las die Zeilen immer und immer wieder. War Josie so verrückt gewesen, dass sie sich tatsächlich für Ellen gehalten hatte? Oder hatte das zu ihrer Rolle gehört wie das Tragen ihrer Kleidung, die Übernahme ihres Autos und ihrer Wohnung? Hatte Josie möglicherweise ein Geständnis ablegen wollen, aber dann hatte sie der Mut verlassen?
Als sie das Blatt wieder einheften wollte, sah sie, dass die Rückseite von Hand beschrieben worden war.
Daisy warf einen Blick auf das Datum: Ende April. Sie überlegte kurz. Es war der Tag gewesen, an dem sie das erste Mal die Boutique betreten hatte.
Ich bin völlig durcheinander. Ein Mädchen kam in den Laden und stellte sich als meine Tochter vor.
Zum ersten Mal, seit ich mich in Ellen verwandelt habe, vergaß ich vor lauter Schreck, wie sie wohl reagiert hätte. Erst später, als ich in Ruhe darüber nachdachte, fiel mir ein, dass sie geweint, das Mädchen in die Arme genommen, den Laden geschlossen und allen erzählt hätte, wer diese hübsche, lebhafte junge Frau war. Sie wäre außer sich gewesen vor Freude.
Ich dagegen habe nichts als Angst empfunden, auch wenn es mir gelang, sie zu verbergen.
Ich bin als Ellen glücklich gewesen. Seit ich mir ihre Wesensart und ihre Wertvorstellungen angeeignet habe, bin ich nicht nur eine erfolgreiche Geschäftsfrau geworden, sondern habe auch den Frieden, die innere Gelassenheit gefunden, um die ich sie immer beneidet habe.
Aber jetzt droht diese junge Frau alles zu zerstören. Wenn ich sie an mich heranlasse, werde ich ständig auf der Hut sein müssen. Wenn ich ihr sage, sie soll verschwinden – was dann?
Ich weiß, dass ich im Grunde keine Wahl habe, ich muss tun, was Ellen getan hätte, und darauf vertrauen, dass sie mich – wie so oft schon in schwierigen Situationen – führen wird. Aber kann sie mich führen, wenn es um die Emotionen einer Mutter geht?
Hätte ich sie doch nur von ihrem Baby erzählen lassen! Ich weiß nicht, wie lange sie in den Wehen lag, ob sie genäht werden musste, wie viel das Baby wog, ob es dick oder dünn, kahlköpfig oder vom ersten Tag an rothaarig war.
Ich habe sie nie danach gefragt. Sooft sie davon erzählen wollte, habe ich mich abgewandt. Warum nur? Ich habe sie immer geliebt, wir haben so viel miteinander geteilt.
Ich schäme mich entsetzlich, weil ich jetzt auf einmal begreife, dass das, nämlich gezwungen worden zu sein, sich von ihrem Kind zu trennen, ein wesentlicher Teil von ihr war.
Es war dieser eine schwere Kummer, dieses Stille an ihr, das ich nie verstehen konnte, und daher rührte auch ihr tiefes Verständnis für alles und jeden.
Was für eine Ironie, dass ich, die ich alles über sie zu wissen glaubte, mich erst ihrer Tochter gegenübersehen musste, um jenen Teil von ihr wahrzunehmen, der mir bisher verborgen geblieben war.
Ich war immer so ichbezogen. Ich habe nie wirklich Rücksicht auf die Gefühle anderer genommen oder mir überlegt, warum ein Mensch in einer bestimmten Situation in einer bestimmten Weise handelt. Ich war mir nie irgendeiner Schuld bewusst.
Ellen war so ganz anders. Sie hatte von Natur aus einen Beschützerinstinkt; sie war immer nachsichtig, und sie meisterte ihr Schicksal, ohne jemand anderen dafür verantwortlich zu machen. Und sie hatte stets eine Entschuldigung für die Fehler und Schwächen anderer. Sie brachte zum Schluss sogar Violet dazu, sie zu lieben.
Vielleicht war es letztendlich das, was ich ihr übel genommen habe. Ich war Violets leibliche Tochter, aber sie hat mich immer nur benutzt, um das zu bekommen, was sie wollte. Um
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