Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
Wenn das Gastspiel hier zu Ende ist, muss alles verpackt und verstaut werden. Manchmal sind wir zwei, drei Tage bis zum nächsten Ort unterwegs, dann müssen alle mit anpacken, bis das Zelt errichtet,
die Sitzbänke aufgestellt und die Anlagen montiert sind. In
der Zeit zwischen den Vorstellungen trainieren wir, machen Reklame, reparieren unsere Ausrüstung, waschen die Kostüme. Wenn es ein paar Tage regnet, waten wir knietief im Morast. Trotzdem muss die Show weitergehen, die Tiere müssen gefüttert und getränkt werden. Eine Pause gibt es für uns nicht, nie.«
Im Nu war es Viertel nach zehn und Zeit zu gehen, dabei gab es noch so viel zu sehen. Ellen hätte gern die anderen Zirkusleute, vor allem die Adolphus Brothers, kennen gelernt, sie hätte zu gern gewusst, wo Pierre herkam und wie er Trapezkünstler geworden war, doch die Zeit drängte.
»Ich muss jetzt gehen«, bemerkte sie wehmütig. »Der Bus fährt gleich ab.«
»Ich wünschte, du könntest bleiben.« Pierre nahm ihr Gesicht in seine Hände und schaute ihr in die Augen. »Als ich dich am Strand zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass du die Richtige bist. Ich hab Angst, du kommst morgen nicht wieder, wenn ich dich jetzt gehen lasse, weißt du?«
»Sie wollen mich wiedersehen?«, flüsterte sie ungläubig. Ellen konnte es nicht fassen, dass ein so attraktiver, talentierter Mann sie zur Freundin haben wollte.
»Nicht nur morgen – übermorgen, nächste Woche, immer.«
Sie standen bei den Wohnwagen. Hinter den Fenstern gingen die ersten Lichter an, und auf dem zertrampelten Gras bildeten sich kleine goldene Seen. Von überall her konnte man Gelächter, laute Stimmen und Musik hören, Essensdüfte vermischten sich mit dem Geruch der Tiere. Der Himmel war sternenübersät und die ganze Szenerie so fremdartig wie ein exotisches Land. Es war fast unvorstellbar, dass hinter dem Rund der Wohnwagen das kleine, verschlafene Falmouth lag.
»Ich muss mich beeilen«, sagte Ellen. Und wusste, ein Wort von ihm würde genügen, ihren Entschluss umzustoßen.
»Gib mir zum Abschied einen Kuss«, bat er und zog sie an sich.
Als seine Lippen die ihren berührten, legte sie alle ihre Hemmungen ab. Nie hatte sie etwas Schöneres erlebt, aber auch nie etwas Gefährlicheres. Ihr Körper schien mit seinem zu verschmelzen, und ihre Nervenenden prickelten vor Erregung.
»Jetzt lauf, sonst verpasst du noch den Bus«, meinte er. Seine Hände lagen auf ihren Schultern und liebkosten die weiche Haut. »Ich würde dich ja zur Haltestelle begleiten, aber so kann ich schlecht gehen, oder?«
Ellen kicherte. Sicher würde sie Bekannte im Bus treffen, und sie konnte sich das Gerede morgen im Dorfladen vorstellen, wenn sie mit einem Mann in einem engen blauen Flitterkostüm gesehen würde. »Ja, das glaub ich auch. Wo wollen wir uns denn morgen treffen?«
»Nach der Nachmittagsvorstellung um halb drei. Dann gehen wir anschließend was essen. Und jetzt beeil dich, dein Bus fährt in fünf Minuten.«
Ellen musste die Schuhe ausziehen und ihr Kleid raffen, damit sie schneller rennen konnte. Aber sie war so glücklich, dass sie mühelos auch die ganzen vier Meilen bis nach Hause gelaufen wäre. Die Fahrgäste stiegen bereits ein, als sie angespurtet kam, und da sie ganz außer Atem war, hatte sie einen guten Vorwand, jenen, die sie kannte, nur flüchtig lächelnd zuzunicken.
Drinnen lehnte sie den Kopf an die Scheibe, schloss die Augen und dachte an Pierres Kuss. Sie spürte ein schmerzhaftes Ziehen im Bauch, ein wundervolles, sehnendes Verlangen. Ausnahmsweise war sie froh, dass Josie nicht zu Hause wartete. Sie wollte ihr Glück mit niemandem teilen.
6. Kapitel
A m Samstagmorgen schuftete Ellen wie eine Besessene. Sie stand um sechs Uhr auf, und als sie um sieben ihrem Vater bei der Kartoffelernte half, hatte sie bereits die Hühner gefüttert, das Frühstück zubereitet und den Küchenboden aufgewischt.
»Du bist ja heute so munter«, stellte Albert fest. Er kletterte vom Traktor und half ihr, die Kartoffeln aufzulesen, die er an die Oberfläche befördert hatte. Es war kurz vor zehn, und obwohl Ellen bereits ein Dutzend große Säcke gefüllt hatte, wirkte sie so frisch, als hätte sie gerade erst angefangen. »Gibts einen besonderen Grund dafür?«
Sie lächelte und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. »Ich mach das gern, die Erde ist so schön warm und krümelig, und sie riecht so gut. Ich komm mir fast vor wie auf der Suche nach einem
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