Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
Herzklopfen vor Angst, und gleichzeitig trieb ihr die anmutige Schönheit der Vorführung Tränen in die Augen. Es war wie ein Ballett in luftiger Höhe. Und jedes Mal, wenn Pierre sich auf den Artistenstand geschwungen hatte, warf er ihr eine Kusshand zu, die sie wohlig schaudern ließ.
Sie war fast erleichtert, als sich die Nummer dem Ende näherte. Vier der Luftakrobaten bildeten eine Kette, indem jeder sich an den Füßen des anderen festhielt. Als sie tief genug waren, ließ sich der Erste ins Netz fallen, packte die Netzkante und landete nach einem Überschlag wieder sicher in der Manege. Die andern drei folgten. Nur Pierre und sein Partner waren noch oben. Jeder schwang an einem Trapez, drehte einen zweifachen Salto und fing dann das Trapez des anderen auf. Das Publikum klatschte stürmisch Beifall; viele Zuschauer sprangen auf und stampften vor Begeisterung mit den Füßen.
Als alle wieder unten waren, hoben sie ihre Capes auf, stolzierten an der Bande entlang und warfen Kusshände in die Menge. Pierre blieb vor Ellen stehen, verneigte sich abermals und warf ihr sein Cape zu.
»Ist das Ihr Freund?«, fragte die Frau neben ihr leise.
»Nur ein guter Bekannter«, flüsterte Ellen zurück und drückte das Cape an sich, als hinge ihr Leben davon ab.
»Sie Glückliche«, sagte die Frau. »Er sieht aus wie ein junger Gott.«
Das große Finale begann. Artisten und Clowns ritten auf Pferden und Elefanten durch die Manege oder gingen neben den Tieren her. Die Zirkuswelt hatte Ellen, der klar geworden war, dass sie bleiben musste, um Pierre das Cape zurückzugeben, in ihren Bann geschlagen. Sollte Sally Trevoise ruhig mit einem pickligen Schuhverkäufer ausgehen – sie hatte eine Verabredung mit einem blonden Gott, der auf einem Elefanten ritt.
Als die Zuschauer zum Ausgang strömten, kam Pierre, der sich eine Art Morgenmantel übergeworfen hatte, durch die leere Manege zurück.
»Komm«, meinte er. Er streckte die Hand aus und half Ellen über die Bande. »Wie hat dir die Vorstellung gefallen?«
»Es war himmlisch, einfach wundervoll«, erwiderte sie. »Sie waren wirklich großartig. Haben Sie eigentlich keine Angst da oben?«
Er warf einen flüchtigen Blick zur Zirkuskuppel und zuckte mit den Schultern. »Darüber denke ich nicht nach, die Luftakrobatik ist mir zur zweiten Natur geworden. Was möchtest du zuerst sehen?«
»Die Tiere«, antwortete sie aufgeregt. »Vor allem den Schimpansen, der mit den Clowns aufgetreten ist.«
Sie verließen das Zelt durch den Ausgang für die Akrobaten und betraten ein Labyrinth von Gängen zwischen Wohnwagen, Lastwagen, Zelten und Käfigwagen. Viele Zirkusleute saßen rauchend und Tee trinkend herum; die Schminke auf ihren Gesichtern wirkte übermäßig grell im rasch schwächer werdenden Licht.
Die oberhalb des Fußes an Pfosten angeketteten Elefanten standen auf der einen Seite, auf der anderen wurden gerade die Pferde auf eine kleine Koppel geführt; in einem flachen Wasserbecken tummelten sich die Seehunde. Der Anblick der Löwen und Tiger in ihren engen Käfigen machte sie betroffen.
»Ist das nicht ein bisschen grausam?«, fragte sie nervös. Die Raubkatzen fauchten und brüllten und schlugen mit den Schwänzen. Aus der Nähe sahen sie nicht so wundervoll aus wie in der Manege: Ihr Fell war dünn und stumpf.
»Sie sind daran gewöhnt«, erwiderte Pierre unbekümmert.
Ein beißender Geruch von Urin und Kot lag in der Luft. Ellen hielt sich die Nase zu, und Pierre lachte. »Hinter den Kulissen ist es nicht mehr so glanzvoll, nicht wahr?«
Er hatte Recht. Der Zauber verflog vollends, als sie entdeckte, dass der kleine, als Baby verkleidete Clown ein ziemlich hässlicher Zwerg war und die scheinbar blutjungen Reiterinnen, die so wunderschön in ihren roten Satinshorts und -westen aus-gesehen hatten, dralle Frauen um die dreißig waren, die jetzt, eine Zigarette im Mundwinkel, in Morgenmänteln herumschlurften.
Und doch hatte diese wenig glamouröse Wirklichkeit etwas Faszinierendes. Was freilich vor allem daran lag, dass Pierre ihre Hand hielt, gelegentlich ihre Wange oder ihr Haar berührte und ihr zuflüsterte, wie wunderschön sie sei. Er zeigte ihr den Wohnwagen, den er sich mit seinem Partner Jack – oder Jacques, wie er im Programm angekündigt wurde – teilte.
Der Raum war sehr klein, aber blitzsauber und ordentlich. Disziplin, Ordnung und harte Arbeit seien das A und O in der Zirkuswelt, erklärte Pierre.
»Sie bestimmen Tag für Tag unser Leben.
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