Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
hatten, kam er wie am Abend zuvor direkt auf sie zu und überreichte ihr lächelnd sein Cape. Am Seil warf er ihr eine Kusshand zu, und Ellen spürte wieder dieses schmerzhafte Ziehen im Bauch. Sie ließ ihn keine Sekunde aus den Augen, als er hinaufkletterte, und ihr fiel auf, wie straff sein Po war, wie sich seine kräftigen Oberschenkel- und Armmuskeln unter dem dünnen Stoff des Kostüms abzeichneten. Oben angekommen, lächelte er seinem Publikum zu. Ellens Blick heftete sich auf die hohen Wangenknochen und die vollen Lippen. Was mochte dort oben in ihm vorgehen? Verlieh es ihm ein Gefühl von Macht zu wissen, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren? Machte ihn das überheblich, oder gehörte es für ihn einfach zur Show?
Der einzige Mann, den sie je nackt gesehen hatte, war ihr Vater. Das war vor ein paar Jahren gewesen, als sie noch kein Badezimmer gehabt hatten und er einmal die Woche ein Bad in einem Zuber in der Küche genommen hatte. Sie wusste noch, dass sie sich über dieses Ding gewundert hatte, das inmitten eines Haarbüschels an ihm baumelte. Erst Jahre später, als sie beobachtete, wie ein Hengst eine Stute deckte, war ihr klar geworden, was das war.
Sie konnte sich sehr gut vorstellen, wie Pierre nackt aussehen würde: Bei ihrer ersten Begegnung hatte er ja nichts weiter als eine winzige Badehose getragen. Sie fand seinen Körper wunderschön, und sie fragte sich, wie sie ihm wohl gefallen würde. Ich sollte mich für diese Gedanken schämen, sagte sie sich, aber sie konnte einfach nicht anders. Einmal hatte sie Fluff, ihre Katze, beobachtet, als sie rollig gewesen und von zwei Katern umworben worden war. Fluff hatte sich geräkelt und mit sinnlichen Bewegungen einladend hin und her gedreht. Ellen fühlte sich wie Fluff. Sie wusch sich die Haare, lackierte die Fußnägel und zog das neue Kleid an, weil sie für Pierre begehrenswert sein wollte.
Und doch kam es ihr irgendwie unanständig vor, so, als ließe sie sich auf das Niveau der ordinären, aufgetakelten Mädchen herab, die in Falmouth auf der Straße standen und jedem Mann, der vorbeikam, schöne Augen machten.
Wie am Abend zuvor holte Pierre sie nach der Vorstellung ab. Doch diesmal zog er sie auf der Stelle in seine Arme und küsste sie, ohne sich um die vielen Zuschauer zu kümmern, die sich noch im Zelt aufhielten. Panik erfasste Ellen. Wenn sie nun von einem Bekannten gesehen wurde? Aber das Glücksgefühl über seine Ungeduld, sie wiederzusehen, überwog.
»Du bist so süß, ich könnte dich glatt auffressen«, sagte er. Dabei trug sie genau dasselbe Kleid wie am Tag zuvor. »Hast du den Bus noch erwischt? Ich hab mir Sorgen gemacht, ich hätte dich zur Haltestelle bringen sollen.«
»Ich hab ihn gerade noch erreicht«, antwortete sie lächelnd, gerührt von seiner Fürsorge.
Sie setzte sich auf die Treppe des Wohnwagens, während er sich umzog und abschminkte. Er hatte vorgeschlagen, dass sie mit der Fähre nach St. Mawes auf der anderen Seite der Flussmündung fuhren und später irgendwo etwas aßen. Ellen beobachtete das Kommen und Gehen der Artisten und malte sich aus, wie sie ihren Freundinnen in der Schule von Pierre erzählen würde: »Er ist Trapezkünstler, und bei unserer ersten Verabredung ist er mit mir zum Essen nach St. Mawes gefahren.« Das klang so erwachsen und weltgewandt. Die andern würden vor Neid platzen!
Pierre trug Jeans und ein weißes, kurzärmeliges Hemd, als er wieder herauskam. Er sah besser aus als jeder Filmstar. »Ich bin noch nie auf der anderen Seite des Flusses gewesen«, erzählte er, nahm sie an der Hand und führte sie durch das Labyrinth der Wohnwagen. »Aber ich hab gehört, es soll wunderschön dort sein.«
»In Cornwall ist es überall schön«, erklärte Ellen nicht ohne Stolz. »Wo bist du eigentlich zu Hause?«
»Eigentlich nirgendwo«, antwortete er. »Ich bin in Leeds geboren, aber meine Eltern waren ständig unterwegs. Die längste Zeit, die ich an einem Ort verbrachte, war während des Krieges, als sie bei der Truppenbetreuung waren und mich solange bei einer Tante in Ilkley unterbrachten.«
»Waren sie auch Luftakrobaten?«
»Nein, mein Vater war Zauberkünstler und Ma seine Assistentin. Sie haben sich vor ein paar Jahren aus dem Geschäft zurückgezogen und leben jetzt wieder in Leeds.«
»Wie bist du dann Trapezkünstler geworden?«
»Nach dem Krieg nahm mein Vater ein Engagement im Tower in Blackpool an. Das war eine fantastische Show mit den unterschiedlichsten
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