Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
sie nachts geschwatzt und im selben Bett geschlafen hatten, wenn ihnen kalt gewesen war. Josie war nicht dumm; sie wusste, genau das war der Grund für die Ausquartierung. In dem neuen Zimmer fühlte sie sich wie in einem Gefängnis. Es verging keine Minute, in der sie nicht sehnsüchtig an Helston dachte.
Seit September war alles schief gegangen. Ihr Plan, Ellen in Anwesenheit ihrer Eltern zu ignorieren, hatte sich als Schuss nach hinten erwiesen: Sie hatte sich damit nur selbst geschadet. Ihr Dad hielt sich kaum noch im Haus auf, er hatte also auch nichts mitbekommen. Josie vermisste die Abende, an denen Ellen und sie Brettspiele gespielt, gemeinsam Illustrierte durchgeblättert, sich gegenseitig frisiert und miteinander geplaudert hatten. Nachdem sie in das andere Zimmer gezogen war, hatten sie überhaupt keine Gelegenheit mehr gehabt, miteinander allein zu sein.
Im November hatten sie das letzte Mal richtig miteinander geredet. Sie hatten sich nach der Schule in Falmouth getroffen, und Ellen hatte ihr von dem Job in Bristol als Haustochter erzählt. Sie habe das Inserat in einer Illustrierten gesehen, sagte sie, und sie werde ihren Eltern an diesem Abend ihren Entschluss mitteilen. Sie wolle ein Jahr in einer Großstadt leben, bevor sie sich für einen Beruf entscheide. Sie nahm Josie das Versprechen ab, den Eltern nichts von dem Baby zu erzählen, weil sie Ende März in ein Heim für ledige Schwangere ziehen und das Kind höchstwahrscheinlich zur Adoption freigeben werde.
Josie war klar geworden, dass es zwischen ihnen nie mehr so sein würde, wie es gewesen war. Ellen schien plötzlich ein anderer Mensch zu sein, so erwachsen und ernst. Sie hatte geweint, weil ihre Schwester fortging und sie ihre beste Freundin verlieren würde. Und doch war sie insgeheim auch glücklich darüber gewesen: Sie hatte gedacht, ihre Mutter würde sich über die Nachricht freuen, und das wiederum würde das Leben für sie selbst leichter machen.
Aber inzwischen hatte sie all ihre Hoffnungen begraben. Weihnachten war auf der Farm immer langweilig gewesen, doch in diesem Jahr würde es ohne Ellen einfach grauenhaft werden. Januar und Februar waren lange, trostlose Monate, im Haus war es bitterkalt, und sie würde sich allein bei Regen, Schnee und Eis auf den Schulweg machen müssen.
Außerdem glaubte sie, ihr Dad werde ihr die Schuld daran geben, dass Ellen fortgegangen war. Er war schrecklich traurig gewesen, als Ellen ihm ihren Entschluss mitgeteilt hatte. Und dann war er wortlos aufgestanden und hinausgegangen, und Josie hegte den Verdacht, dass er geweint hatte. Ihr würde er bestimmt keine Träne nachweinen!
»Komm sofort runter, Josie!«
Josie seufzte und stand widerwillig auf. Ihre Mum hatte sie zwar ermuntert, Ellen aus dem Haus zu treiben, aber jetzt, da es so weit war, bezweifelte sie, dass Violet sich dankbar zeigen würde. Vermutlich würde sie von nun an doppelt so viel im Haushalt helfen müssen wie bisher.
»Warum hast du dich nicht von Ellen verabschiedet?«, keifte Violet, als Josie die Treppe herunterkam.
Josie antwortete nicht sofort. Kritisch musterte sie die Mutter. In Helston hatte sie auf ihr Äußeres geachtet, aber jetzt ließ sie sich schon wieder gehen. Die Dauerwelle war herausgewachsen und ihr Haar so spröde, dass es sie an diese Topfreiniger aus Stahlwolle erinnerte. Die Schürze über dem Kleid starrte vor Schmutz, ihre geschwollenen grauen Füße quollen aus den Hausschlappen. Am abstoßendsten aber war ihr Gesicht.
Bitterkeit hinterließ eben Spuren. Ihr Mund war verkniffen, die ständige Verdrossenheit hatte tiefe Falten um die Mundwinkel und in die Stirn gegraben. Ihre schiefen, braun verfärbten Zähne und die gelbliche Haut machten die Sache auch nicht besser. Statt einundvierzig sah sie eher wie Ende fünfzig aus.
»Kann dir doch egal sein, ob ich mich von ihr verabschiede oder nicht«, gab Josie patzig zurück. Es passierte ihr immer öfter, dass sie beim Anblick ihrer Mutter die Angst packte, eines Tages so wie sie auszusehen. »Du bist froh, dass sie fort ist, stimmts?«
»Darum gehts nicht. Ich will nicht, dass dein Vater denkt, wir hätten sie aus dem Haus gejagt.«
»Wir bestimmt nicht. Das hast du ganz allein besorgt.«
Ihre Mutter stürzte sich auf sie und schlug ihr ins Gesicht. »Werd bloß nicht frech, du!«, schimpfte sie. »Glaubst du, ich weiß nicht, warum du unbedingt nach Helston willst? Damit du dich wieder an diesen Lümmel mit dem Roller hängen kannst, du kleine
Weitere Kostenlose Bücher