Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
packen.«
Verwirrt schleppte sich Josie die Treppe hinauf. Obwohl klar war, dass sie die Ferien nicht in Helston verbringen und vorerst nicht dorthin ziehen würde, schien das auf einmal nicht mehr so wichtig zu sein, weil ihr Vater ihr bewiesen hatte, wie viel ihm an ihr lag.
Der Januar, der Februar und der März des Jahres neunzehnhundertvierundsechzig wurden so trostlos, wie Josie erwartet hatte. Es war bitterkalt; tagelang trieb der Wind Schneeregen statt Schnee übers Land, und sie vermisste Ellen noch viel mehr, als sie sich vorgestellt hatte. Es waren die Kleinigkeiten, an denen sie merkte, wie sehr sie ihr fehlte: Beim Haarewaschen spülte ihr niemand mehr die Haare gründlich aus; auf dem Weg zum Schulbus plauderte niemand mit ihr; beim Brennholzholen half ihr niemand mehr.
Ihre Mum jedoch war wie ausgewechselt. Sie hatte zwar nie ein Wort über jenen Tag vor Weihnachten verloren, aber sie war freundlicher und zugänglicher. Sie verwöhnte Josie mit Gebäck zum Tee, wärmte morgens ihren Schulmantel am Feuer und ließ ihr neben der Mithilfe im Haushalt genügend Freizeit.
Albert musste ihr ordentlich die Leviten gelesen haben, denn sie gab Josie sogar Ellens Briefe, ohne sie vorher geöffnet zu haben. Was allerdings auch nicht schlimm gewesen wäre: Ellen erwähnte das Baby mit keinem Wort. Sie beschrieb Bristol voller Begeisterung, erzählte von den Sandersons, der Familie, bei der sie arbeitete, und ihren beiden kleinen Jungen und machte nicht den Eindruck, als bedrückte sie irgendetwas.
Violet lese ihre Briefe nicht, schrieb Josie ihr, sie könne also ganz offen sein, und sie, Josie, lasse die Briefe auch nicht herumliegen. Dennoch berichtete Ellen weiterhin nur von unverfänglichen Dingen und deutete nicht einmal im Entferntesten an, dass sie einen dicken Bauch bekam oder bald in das Heim für werdende Mütter zog.
Im März war Josie überzeugt, aufs Glatteis geführt worden zu sein. Ellen war gar nicht schwanger. Vielleicht hatte sie das anfangs geglaubt und sich deshalb um diese Stelle bemüht. Doch dann musste sich herausgestellt haben, dass alles nur blinder Alarm gewesen war. Josie verstand nicht, warum Ellen ihr das verschwieg, sie hätten das doch heimlich feiern können. Und wenn Ellen trotzdem noch immer von zu Hause hätte fortgehen wollen, dann hätte sie das verstanden und die Schwester unterstützt.
Früher hatten sie alles miteinander geteilt, Träume und Hoffnungen ebenso wie Strümpfe und Schlüpfer. Dass Ellen sie jetzt weiterhin an eine Lüge glauben ließ, war in Josies Augen die schlimmste Art von Verrat. Als wäre sie ein Nichts, jemand, dem man nicht vertrauen konnte.
Ellens Gleichgültigkeit verletzte sie tief. Und wenn Violet eine sarkastische Bemerkung machte wie: »Haustochter! Da nützen ihr die guten Noten ja eine Menge! Das kann doch jeder Idiot!«, protestierte Josie nicht mehr und gab ihr manchmal sogar Recht.
Andererseits fiel es ihr jetzt, da Ellen fort war, leichter, die Eltern zu überreden, sie von der Schule abgehen zu lassen. Im Juli würde sie fünfzehn werden, und die Lokalzeitung war voll mit Stellenangeboten für Bürokräfte oder Verkäuferinnen in Falmouth und Truro. Nicht, dass Josie die Absicht gehabt hätte, länger in Cornwall zu bleiben, als es dauern würde, sich das Geld für ein paar neue Kleider zu verdienen: Sie war fest entschlossen, nach London zu gehen.
Nachts in ihrem Zimmer flüchtete sie sich in ihren Traum, ein weltberühmtes Model zu werden. Sie bürstete ihre Haare so lange, bis sie ringsum abstanden und eine Art flammenden Heiligenschein bildeten, wickelte sich in ein Bettlaken und posierte vor dem Spiegel. Sie hatte eine Menge Fotos von Jean Shrimpton genau betrachtet, und sie hielt sich eigentlich für viel hübscher als »The Shrimp« und fand auch, sie habe eine bessere Figur. Sie musste nur einen Fotografen wie David Bailey finden, und die Welt würde ihr zu Füßen liegen.
Dieser Traum half ihr durchzuhalten, wenn die Atmosphäre zu Hause unerträglich war. Er tröstete sie, wenn sie die schlechteste Klassenarbeit geschrieben hatte und der Juli und somit das Ende des Schuljahres in unendlich weiter Ferne zu liegen schienen. Es fiel ihr kaum auf, dass Ellens Briefe im Mai kürzer wurden und die Abstände, die zwischen ihnen lagen, größer. Josie hatte sich nie für die Arbeit auf der Farm interessiert, nicht einmal die Hühner hatte sie gefüttert, aber jetzt war ihr nichts zu viel, um ihrem Vater eine Freude zu machen: Sie
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