Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
bekommt«, tröstete Shirley sie. »Nun komm schon, reiß dich zusammen, du hast es doch selbst so gewollt. Du wirst sehen, nächste Woche denkst du gar nicht mehr daran.«
Die Stationsschwester gab ihr Tabletten mit, damit sich keine Milch mehr bilden sollte, und Ellen wünschte, es gäbe auch Tabletten gegen dieses grauenvolle Gefühl der Verlassenheit. Obwohl sie den starken Verdacht hatte, Opfer eines abgekarteten Spiels geworden zu sein, durfte sie sich nichts anmerken lassen. Immerhin hatten Shirley und Roger ihr in einer Notlage geholfen. Und so ging sie mit ihnen nach Hause zurück, umarmte die beiden Jungen und tat so, als wäre alles in bester Ordnung.
Wenig später wurde es Frühling. Wenn Ellen mit den Kindern in den Park ging, quälte sie sich, indem sie in jeden Kinderwagen schaute. Es werde mit jedem Tag ein bisschen weniger wehtun, sagte sie sich, doch der Schmerz ließ nicht nach. Ihre Gedanken kreisten unentwegt um ihr Kind. Sie stellte sich vor, wie es von einer Frau, die sie nie auch nur gesehen hatte, gefüttert, gebadet und gewickelt wurde.
Ihr einziger Trost waren Nicholas und Simon. Ellen überhäufte sie mit der Liebe, die sie gern ihrem eigenen Kind geschenkt hätte. Da Shirley immer mehr Zeit im Geschäft verbrachte, waren die Jungen noch stärker auf sie angewiesen, und das war Balsam für Ellens Seele. Doch wenn sie abends allein in ihrer Kammer lag und sich ihr Kind in den Armen einer Fremden vorstellte, flossen von neuem die Tränen.
Im Juli traf ein Brief ihres Vaters ein, in dem er ihr mitteilte, Josie sei von zu Hause weggelaufen. Das rüttelte Ellen auf. Sie war so mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt gewesen, dass sie ihrer Schwester seit Wochen nicht mehr geschrieben hatte, von einer hastig gekritzelten Karte zum Geburtstag, die sie ihrem Geschenk, einer Handtasche, beigefügt hatte, einmal abgesehen. Jetzt quälten sie Schuldgefühle: Josie musste angenommen haben, sie sei ihr gleichgültig.
Sie beschloss, sich Dr. Fordham anzuvertrauen. Ellen hatte sie während der Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen schätzen gelernt und vertraute ihr. Nach der Entbindung war sie noch zweimal bei ihr gewesen, zuletzt, als sie die Adoptionsunterlagen hatte unterschreiben müssen, damit die Adoptiveltern das Kind mit nach Hause nehmen konnten. Dr. Fordham kannte Ellens familiäre Situation und konnte nachvollziehen, wie sie sich fühlen musste.
»Warum besuchst du deine Eltern nicht?«, fragte sie, nachdem Ellen ihr erzählt hatte, Josie sei weggelaufen. »Findest du nicht, es ist an der Zeit, nach deinem Vater zu sehen? Und du könntest die Gelegenheit nutzen, dich mit Josies Freunden in Verbindung zu setzen. Vielleicht weiß einer von ihnen, wo sie sich aufhalten könnte.«
»Aber ich fühl mich so elend! Ich könnte die ganze Zeit weinen«, bekannte Ellen. »Wenn mir nun etwas über mein Baby herausrutscht?«
»Was man für sich behalten will, das behält man auch für sich«, erwiderte die Ärztin mit Bestimmtheit. »Du hast doch auch noch deine gute Freundin Mrs. Peters. Sprich mit ihr, das wird dir sicher helfen.«
»Violet wird mir die Schuld daran geben, dass Josie abgehauen ist«, seufzte Ellen. »Sie wird aus der Haut fahren, wenn sie mich sieht.«
Dr. Fordham nahm Ellens Hände in ihre. Sie war eine kleine, streng wirkende, gouvernantenhafte Frau, aber sie hatte warme graue Augen. »Ellen, Liebes, du hast Schreckliches durchgemacht, doch jetzt ist es vorbei. Catherine geht es gut, ihre neuen Eltern lieben sie. Auch wenn du es nicht glaubst: Die schlimme Erfahrung, die hinter dir liegt, hat dich stärker gemacht, und du wirst mit Violet fertig werden. Es kommt jetzt darauf an, dass du den Scherbenhaufen zusammenfegst, die Stücke wegwirfst, die du nicht mehr willst, und überlegst, wie es weitergehen soll. Aber vorher musst du nach Hause und dir ansehen, was du zurückgelassen hast.«
»Ich versteh nicht, was Sie damit meinen«, gestand Ellen.
»Das kommt schon noch«, erwiderte die Ärztin lächelnd. »Fahr nach Hause und schau einfach, was passiert. Und denk daran: Du bist nicht für deine Schwester verantwortlich. Liebe sie, sorge dich meinetwegen um sie, aber sie hat ihr Leben, du hast deines, und du musst es planen, damit es ein gutes Leben wird.«
Anfang August nahm Ellen den Zug nach Truro. Da die Sandersons mit den Kindern zwei Wochen wegfuhren, hatte sich die Fahrt nach Hause problemlos einrichten lassen.
Josie hatte eine Postkarte aus London geschickt, eine
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