Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
Zoomobjektiv. Sie hatte sich, wie er es verlangt hatte, die Haare zu Rattenschwänzchen gebunden und sah mit dieser Frisur unglaublich jung und verletzlich aus. Mark war begeistert. Sein Plan funktionierte hervorragend.
Ein gut gekleideter Mann mittleren Alters trat auf Josie zu. Zuerst schien es, als stellte er ihr eine ganz harmlose Frage, doch durch das Kameraobjektiv konnte Mark beobachten, wie Jojo erschrocken die Augen aufriss und dann panisch flüchtete.
Er wusste, es war Zeit, sich zu erkennen zu geben, aber er blieb wie angewurzelt stehen und machte ein Bild nach dem anderen, so sehr faszinierten ihn Jojos Ängste. Sie knetete die Hände, warf abwechselnd einen gehetzten Blick auf die Bahnhofsuhr und in die Runde.
Mark konnte die Ganoven in ihrer Nähe beinahe körperlich fühlen. Sie waren auf Beute aus, so wie der Mann Mitte zwanzig, der eine auf einem Koffer abgestellte Handtasche im Auge hatte, oder der schäbig gekleidete ältere Mann, der scheinbar ziellos, aber mit unstetem, wachsamem Blick umherschlenderte. Mark fragte sich, wie viele Männer sich wohl im Bahnhof herumtrieben und einsamen Jugendlichen auflauerten, sich ihnen unter dem Vorwand, ihnen helfen zu wollen, näherten und sie dann zu Grunde richteten.
Jojo trug ihren Koffer in eine Ecke und setzte sich darauf. Durch das Objektiv sah Mark, dass sie weinte.
Er frohlockte. Das war genau die Art von Bild, das er sich erhofft hatte: eines, das zu Herzen ging. Er dachte nicht eine Sekunde daran, was Josie in diesem Moment durchmachte. Während er auf sie zuging, fotografierte er weiter. Er hatte Herzklopfen, weil er wusste, diese Fotos waren preisverdächtig. Plötzlich hob sie den Kopf. Anscheinend erkannte sie ihn nicht. Sie musste ihn für einen dieser perversen Typen halten, die sie belästigten, denn sie sprang auf und stürzte sich mit hoch erhobenen Fäusten auf ihn.
»Verpiss dich, du Drecksau!«, schrie sie und hätte ihm beinahe die Kamera aus der Hand geschlagen.
»Ich bin es doch, Jojo.« Er machte einen Satz zur Seite. »Tut mir Leid, dass du warten musstest. Ich bin aufgehalten worden.«
Sie schien regelrecht in sich zusammenzufallen. Die Wimperntusche zog sich in schwarzen Schlieren über ihre Wangen. Sie sah eher wie zehn als wie fünfzehn aus. »Ich dachte ...«, begann sie und verstummte. »Ich hatte solche Angst«, fügte sie leise hinzu.
»Komm, ich lade dich zum Tee ein«, schlug Mark vor, der die neugierigen Blicke der Passanten bemerkte. »Ich habe alle Fotos, die ich wollte. Für heute ist es genug.«
Er dachte, sie würde sich freuen, doch stattdessen machte sie ein entrüstetes Gesicht, und ihre Augen sprühten Funken. »Sie haben mich ohne mein Wissen fotografiert?« Ihre Stimme zitterte. »Ich muss ja furchtbar ausgesehen haben!«
»Ich fand dich perfekt«, versicherte er. Begütigend legte er ihr die Hand auf die Schulter. »Komm, eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen werden dir gut tun.«
13. Kapitel
E llen verließ das Bahnhofsgebäude von Truro und rannte durch den Regen zu dem alten Lastwagen ihres Vaters. Ihr kleiner Koffer, der von den vielen Weihnachtsgeschenken schwer war, schlug ihr gegen die Beine. Als sie näher kam, sah sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Alberts Gesicht war angespannt vor Zorn.
Ein kalter Schauer rieselte ihr über den Rücken. Hatte er irgendwie von dem Baby erfahren?
»Hallo, Dad«, sagte sie nervös, als sie die Tür aufriss. Falls er sie zu hart anfasste, könnte sie Weihnachten immer noch bei den Peters’ verbringen. »Hast du was? Du machst so ein grimmiges Gesicht.«
»Josie, diese verdammte Göre!«, blaffte er. »Sie hat Schande über uns gebracht.«
Ellen war das letzte Mal im August zu Hause gewesen. Seitdem hatte sie zwei Briefe von Josie bekommen. Zuerst war sie gekränkt gewesen, weil Josie sich mit keinem Wort nach dem Baby erkundigt hatte, sie hatte nicht gefragt, ob es ein Mädchen oder ein Junge sei, was es gewogen oder wie Ellen es verkraftet habe, das Kind wegzugeben. Sie hatte nur von sich erzählt.
Doch dann hatte sich Ellen gesagt, Josie sei ja noch ein halbes Kind, und ihr verziehen. Sie freute sich für sie, dass es mit dem Modeln geklappt hatte. Es schien ihr sehr gut in London zu gefallen, und dass sie keine Adresse nannte, war verständlich: Sie befürchtete, Violet könnte unverhofft aufkreuzen. Ellen bedauerte zwar, sich nicht mit ihr in Verbindung setzen zu können, doch sie hatte sich Dr. Fordhams Rat, ihr eigenes Leben zu leben, zu
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