Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
erklärten die mir. Wie steh ich denn jetzt da?«
»Aber deswegen hat sie doch keine Schande über dich gebracht«, gab Ellen zu bedenken. »Sie hat schließlich nichts verbrochen, oder? In den beiden Briefen, die sie mir geschrieben hat, klang sie ganz munter und fröhlich. Außerdem ist sie seit fast sechs Monaten fort, also muss das ein altes Foto sein.«
»Dann weißt du also, wo sie steckt?« Violet stürmte an Albert vorbei und trat ganz dicht vor Ellen hin. »Uns hat sie keine Adresse geschrieben.«
»Mir auch nicht«, entgegnete Ellen und verwünschte ihre Idee, nach Hause zu fahren. »Ich weiß genauso wenig wie ihr. Sie schrieb nur, sie habe neue Freunde gefunden und einen Job als Model.«
Ihre gute Laune wurde ihr endgültig verdorben, als Violet anfing, Gift und Galle zu speien, und Ellen für alles verantwortlich machte. Ellen wusste, sie würde sich wehren müssen, wenn sie nicht bei jedem Besuch so behandelt werden wollte. Albert schwieg, machte aber ein grimmiges Gesicht, und Ellen fand, er hätte sie zumindest fragen können, wie es ihr ging.
»Lass deine Wut nicht an mir aus, sonst hau ich auch ab«, erwiderte sie, als sie Violets Gekeife nicht mehr ertragen konnte. »Es ist nicht meine Schuld, dass es so gekommen ist, und das weißt du auch. Warum suchst du den Fehler zur Abwechslung nicht mal bei dir?«
Violet holte zu einer Ohrfeige aus, aber Ellen war schneller und duckte sich zur Seite. »Untersteh dich«, explodierte sie. »Wenn du mich auch nur ein einziges Mal anrührst, seht ihr mich nie wieder!«
Später, in ihrem Zimmer, lachte Ellen leise in sich hinein, als sie an Violets schockierten Gesichtsausdruck dachte. Sie wünschte, sie hätte schon viel früher den Mut gehabt, ihr die Stirn zu bieten. Vielleicht hätte sie dann zumindest ihre Achtung gewonnen, wenn schon nicht ihre Zuneigung.
Nachdem die Vorbereitungen für das Weihnachtsessen getroffen waren, studierte Ellen noch einmal den Zeitungsartikel. Merkwürdig, dass Josie Rattenschwänzchen trug! So hatte sie ihre Haare das letzte Mal mit acht oder neun frisiert. Seltsam war auch, dass sie auf einem Bahnhof fotografiert worden war, obwohl sie sich doch im Auto nach London hatte mitnehmen lassen. Und dann der zeitliche Abstand. Warum war das Foto erst nach sechs Monaten veröffentlicht worden, wenn die Sache dem Fotografen angeblich keine Ruhe gelassen hatte?
Als sich ihre Eltern ein wenig beruhigt zu haben schienen und sich im Wohnzimmer vor dem Kamin einen großen Whisky gönnten, erklärte Ellen ihnen, was sie von dieser Angelegenheit hielt.
»Ich glaube, an dieser Geschichte ist kein wahres Wort. Das ist ein abgekartetes Spiel. Das Foto ist gestellt.«
Sie stimmten ihr nicht zu, was Ellen jedoch nicht verwunderte. Ihre Eltern waren einfache Leute, sie wussten nichts vom Leben außerhalb Cornwalls. Sie selbst wusste allerdings auch nicht viel mehr, und sie verstand ganz sicher nichts von den Strategien der Zeitungen und Journalisten. Sie hatte nur so eine Ahnung.
Die Weihnachtstage verliefen ohne weitere Zwischenfälle. Ellen fiel auf, dass ihre Eltern ziemlich viel tranken. Früher hatten sie nie Alkohol im Haus gehabt. An Weihnachten gehörten ein, zwei Gläschen zwar dazu, aber sie hatte den Eindruck, Violet und Albert tranken schon ein bisschen mehr.
Möglicherweise betäubten sie so die Enttäuschung über ihre Kinder, oder aber das gemeinsame Trinken tröstete und stärkte sie. Sie gingen jedenfalls nicht mehr so grob miteinander um wie früher, und allein schon deshalb hatte Ellen nicht das Geringste dagegen einzuwenden.
Am siebenundzwanzigsten Dezember, einem Sonntag, musste sie nach Bristol zurückkehren. An diesem Morgen erschien eine Fortsetzung des Artikels vom vergangenen Sonntag, dieses Mal mit Fotos von jungen Mädchen, die als Stripteasetänzerinnen in Soho arbeiteten. Anscheinend sollte das eine Serie über die Ausbeutung von Jugendlichen in London werden. Unter dem Artikel war wieder das Foto von Josie abgedruckt, wieder mit der Bitte um Mithilfe bei der Suche nach ihr. Die Redaktion nehme Hinweise entgegen.
»Wenn es denen wirklich ernst damit wäre«, bemerkte Ellen ihrem Vater gegenüber, »hätten sie dich nicht abgewimmelt, als du in der Redaktion warst. Ich sag dir, die führen was im Schilde.«
Ellen war heilfroh, als sie am Nachmittag nach Bristol zurückfahren konnte. Die Kälte im Haus und seine Primitivität gingen ihr ebenso auf die Nerven wie Violets bissige Bemerkungen und das
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