Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
Herzen genommen. Und wenn Josie meinte, ihr nicht vertrauen zu können, so war das ihr Problem.
Der Gedanke an ihr Kind quälte Ellen nach wie vor. Nachts lag sie oft wach und weinte und wünschte, es hätte einen Weg gegeben, die Kleine zu behalten. Doch als Catherine sechs Monate alt geworden war, hatte sie die endgültigen Adoptionspapiere unterzeichnen müssen, und damit war die Adoption rechtskräftig geworden.
Wenig später hatte Dr. Fordham einen Brief der Adoptiveltern an sie weitergeleitet. Sie schilderten ihr in allen Einzelheiten, wie es der Kleinen ging: was sie aß, dass sie schon drei Zähnchen hatte und sich weitere ankündigten, dass sie ein glückliches, ruhiges Baby war, das in einem fort lächelte und brabbelte.
Besonders berührte Ellen, dass sie ihr dafür dankten, ihnen »dieses Geschenk« gemacht zu haben, wie sie es ausdrückten. Catherine bereite ihnen mehr Freude, als sie es sich je vorzustellen vermocht hätten, und ihnen sei klar, welchen Preis sie, Ellen, dafür bezahlen musste. Sie wünschten ihr von ganzem Herzen Glück und Erfolg, schrieben sie, und wenn Catherine alt genug sei, würden sie ihr alles erklären.
Sie hatten auch drei Fotos beigefügt. Eins war in einem Atelier aufgenommen worden, die andern beiden zu Hause. Catherine war dick und rund, hatte ein paar Haarbüschel bekommen und strahlte übers ganze Gesicht. Die Fotos bedeuteten Ellen alles, sie bestätigten, was Catherines neue Eltern über sie erzählt hatten. Obgleich der Schmerz über die Trennung von ihrem Kind nie vergehen würde, wusste sie, sie hatte Catherine ein besseres Leben ermöglicht, als sie selbst es ihr hätte bieten können.
Jetzt gab es kein Zurück mehr, sie musste nach vorn schauen. Im Frühjahr würde sie sich nach einer neuen Stelle umsehen, vielleicht in einem Kinderheim. Die Sandersons würden zwar nicht gerade begeistert sein, weil sie sich voll und ganz auf sie verließen, doch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Sie hatte das Recht auf einen Job mit geregelten Arbeitszeiten, damit sie auch einmal abends ausgehen oder übers Wochenende wegfahren könnte, ohne darum betteln zu müssen. Und sie hatte Anspruch auf mehr als drei Pfund Taschengeld die Woche.
Albert startete den Motor, der Lastwagen rumpelte los.
»Schande über uns gebracht? Wieso, was hat sie denn angestellt?«, fragte Ellen. Sie war erleichtert, dass sein Zorn nicht ihr galt, und amüsierte sich über seine altmodische Ausdrucksweise. »Sie hat Schande über uns gebracht«, klang nach viktorianischem Melodram.
Die modernen Ansichten der Sandersons hatten sie ebenso beeinflusst wie die ausgiebige Beschäftigung mit dem Thema Kinderbetreuung und -entwicklung. Sie hatte die eigene Erziehung analysiert und war zu dem Schluss gelangt, dass die meisten Kinderpsychologen sagen würden, Josie und sie konnten von Glück reden, sich so normal entwickelt zu haben.
»Was sie angestellt hat?«, polterte ihr Vater über das Dröhnen des Motors hinweg. »Liest du denn keine Zeitung?«
Sie verstand nur die Hälfte von dem, was er erzählte, weil es im Lastwagen so laut war, aber kaum waren sie auf der Farm angekommen, hielt ihr Vater Ellen die Zeitung vom vergangenen Sonntag vor die Nase. Es war ein Boulevardblatt und nicht die Zeitung, die die Sandersons lasen. Auf einem großen Foto war Josie zu sehen, wie sie ganz verloren in einem Londoner Bahnhof auf ihrem Koffer hockte und weinte. Die Schlagzeile darüber lautete:
Wer kennt dieses Mädchen?
In dem dazugehörigen Artikel hieß es, die Aufnahme stamme von dem preisgekrönten Fotografen Mark Kinsale, dem das Schicksal des Mädchens nicht mehr aus dem Sinn gehe.
Bestürzt las Ellen den ganzen Artikel. Sie bekam Herzklopfen vor Angst um ihre Schwester. Die Jugendlichen, die in die Großstädte strömten, seien leichte Beute für skrupellose Arbeitgeber, die sie im Gaststättengewerbe, in Schneidereien oder, schlimmer noch, in der Pornoindustrie in Soho rücksichtslos ausbeuteten. Sie müssten zu mehreren in einem einzigen Zimmer in den grauenvollsten Londoner Slums hausen, wo sie, um ihren geringen Verdienst aufzubessern, anfällig für kriminelle Handlungen würden.
»Ich hab bei der verdammten Zeitung angerufen, wir sind sogar dort gewesen, aber die wollten mir nichts sagen«, tobte ihr Vater, während Violet sie mit versteinerter Miene anstarrte, als gäbe sie ihr die Schuld an all dem. »Sie habe es wohl zu Hause nicht mehr ausgehalten und sei deshalb weggelaufen,
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