Wenn Zaertlichkeit dein Herz beruehrt
Wasser, damit Victoria die letzten Schmerztabletten, die sie in ihrem Rucksack hatte, nehmen konnte, oder breitete ihr eine warme Decke über die bloßen Beine. Denn Victoria war höchst unschicklich gekleidet: Über ihrem Slip trug sie nur ein Männerhemd, dazu weiße Socken. Aber da »das Mannsvolk ja schon zu Bett gegangen war«, wie Abigale sich ausdrückte, hatte die Haushälterin nichts gegen ihren skandalösen Aufzug einzuwenden gehabt. Sie hatte merkwürdig gelächelt, als sie Victorias Schulter getätschelt hatte, dann war sie ebenfalls schlafen gegangen.
Victoria lauschte den Geräuschen des alten Hauses, genoss es, dass ihre Haut frei war von Maske und Kleber, aber ihre Gedanken fanden keine Ruhe.
Okay, dann würde sie noch einmal alles zusammenfassen.
Sie befand sich im Jahr 1872, in einer Zeit, in der Prostitution und die Todesstrafe durch Hängen legal waren. Im ganzen Territorium gab es nur einige wenige Gefängnisse. Das schnellste Transportmittel war die Eisenbahn. All die Dinge, die ihr bisher vertraut gewesen waren und die das Leben einfac her machten, gab es hier nicht - nicht, dass sie außer Klimaanlage und Fastfood viel vermisst hätte. Wer auch immer behaupten mochte, dies sei ein hartes und rauhes Zeitalter, der hatte nie in einer Großstadt des 20. Jahrhunderts gelebt, mit all den Straßenbanden, Schüssen aus vorbeifahrenden Autos, Kinderschändern und Serienmördern.
Victoria fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Hatte sie sich nicht selbst das Versprechen gegeben, nicht über ihren Job oder Becket nachzudenken? Zumindest nicht an diesem Tag. Sie leerte die Tasse, stellte sie auf den Boden, zog ein Knie an und betrachtete den prächtigen Bluterguss, der ihr Knie blau färbte.
»Wo hast du denn den her?«
Victoria zuckte zusammen, dann beugte sie sich vor, um um die Lehne herumschauen zu können. Selbst in der Dunkelheit konnte sie ihn wahrnehmen, ihn fühlen. Unwillkürlich hielt sie den Atem an, als Chris dann in den Lichtschein trat. Er war barfuß, trug nichts als einen schwarzen Hausmantel aus Seide, der lose um die Taille gebunden war.
Ihr Herz schlug schneller. »Ich bin in einen Minenschacht gefallen.«
Seine Augen funkelten, sein Blick glitt von ihren langen, schlanken Beinen zu ihrem Gesicht. »Verdammt, Tori, du hättest dabei umkommen können!«
»Ich weiß.« Das klang reuevoll und ein bisschen beschämt.
»Und wie bist du rausgekommen?«
»Na, wie wohl?« Sie verdrehte die Augen. »Ich bin geklettert.«
Er grinste und trat dann mit ein paar Schritten an die Bar, öffnete eine Flasche und schüttete einen Cognac ein. Fragend hielt er ihr das Glas hin.
»Ja, danke. Vielleicht kann ich dann wieder einschlafen.«
Er goss sich selbst auch einen Cognac ein, dann kam er zu Tori, b eid e Gläser in einer Hand. Victoria konnte den Blick einfach nicht von ihm abwenden. Er bewegte sich so leise, so geschmeidig. Sie nahm das Glas, das er ihr reichte, und bei dieser Bewegung klaffte sein Morgenmantel auf. Seine Brust schien wie aus Granit gemeißelt. Sie sehnte sich danach, ihn zu berühren, und um der Versuchung nur ja nicht nachzugeben, hielt sie das Glas mit b eid en Händen fest. Sie fühlte sich plötzlich verletzlich und hilflos, hier in seinem Haus, in seinem Wohnzimmer, und vor allem, wenn Chris sie so anschaute. Als ob er ihr bis in die Seele blicken könnte. Sie trank einen Schluck und verzog das Gesicht, als das Getränk ihr in der Kehle brannte.
Chris lächelte, als er sich setzte. Victoria war nervös, eine Tatsache, die ihn verblüffte, ihm aber auch gefiel - sehr sogar. Er betrachtete sie über den Rand des Glases, während auch er einen Schluck trank. Erstaunlich, welches Ergebnis ein Bad und ausreichend Schlaf haben konnten. Sie wirkte wie eine frisch gepflückte Orchidee, sinnlich, erotisch, und er konnte gar nicht genug davon bekommen, sie ohne eine Verkleidung zu sehen, einfach nur sie selbst. Das schlichte Männerhemd und die Socken wirkten an ihr genauso verführerisch wie Spitzen und Seide. Er hätte nicht geglaubt, dass sie ihn so einfach gekleidet dermaßen erregen könnte - aber sie hatte ihn ja selbst dann noch erregt, als sie sich als Mann verkleidet hatte.
»Wirst du endlich aufhören, mich so anzustarren?«
»Nein.«
Sie schob ihr Haar zurück, aber es fiel gleich wieder wie ein goldener Wasserfall nach vorne, die dunkleren Strähnen um ihr Gesicht wirkten wie ein samtiger Heiligenschein. Halb Frau, halb Raubkatze, dachte er.
»Wenigstens
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