Wer anders liebt (German Edition)
Jeden Moment konnte die Mutter auf die Uhr schauen, feststellen, jetzt sei Schlafenszeit, und ihn nach oben schicken. Dort würde er liegen und auf die Stimmen unten lauschen, Ingemars tiefe, ruhige Stimme und das übermütige Lachen der Mutter. Manchmal übernachtete Ingemar bei ihnen, dann hörte er sie im Treppenhaus, wo sie sich aufführten wie kleine Kinder. Manchmal fuhr Ingemar nach Hause, und dann hörte er sie auf der Treppe murmeln, sie brauchten immer lange, um Abschied zu nehmen. Am Liebsten war er in der Hütte, allein mit der Mutter, der kleinen Hütte, die sie Preis nannten und die am Sandertjern lag. Ingemar kam nie mit, dort oben fühlte Edwin sich sicher. Und wenn sie keine Zuschauer hatten, war es der Mutter egal, wie viel er aß.
»Können wir zur Hütte Preis fahren?«, fragte er.
»Nicht an diesem Wochenende«, sagte die Mutter. »Du musst dein Telefon aufladen, mach das sofort. Da bist du so schrecklich schlampig.«
Edwin stemmte die Hände auf die Sessellehnen und schob sich auf die Füße, das war schwer. Er spürte Ingemars Blick im Rücken, als er in die Küche ging. Er wollte das Telefon aus seiner Schultasche holen, aber dann erlag er der Versuchung und nahm sich noch ein Eis aus dem Kühlschrank. Die im Wohnzimmer hatten ihn schon vergessen, er ging mit einer Mischung aus Kummer und Trotz vor, verzehrte sein Eis in aller Eile, im Stehen vor dem Küchenfenster.
Sein gewaltiger Leib war im Glas deutlich wie ein Spiegelbild.
21
10. September.
Die Nachricht von Edwin Åsalids Verschwinden wurde auf der Wache um Punkt 19 Uhr registriert. Tulla Åsalid hatte vier Stunden gewartet, sie hatte überall nach ihm gesucht, und sie hatte geweint. Sie hatte an Jonas August gedacht und bei diesem Gedanken fast den Verstand verloren.
»Pädophile folgen oft einem Muster«, sagte Sejer, »sie streifen umher, schlagen zu und verdrücken sich. Das hier kann etwas anderes sein als Sie befürchten. Es gibt viele Möglichkeiten.«
Tulla Åsalid stand am Fenster, nun drehte sie sich um und sah ihn an.
»Er kommt nicht so schnell voran«, sagte sie nervös, »ich meine, wenn jemand ihn verfolgt.«
Sejer und Skarre versuchten zu begreifen, was sie meinte. Sie ging zu einer Kommode an der Wand und holte ein Foto, Sejer sah, dass ihre Hand zitterte.
»Sehen Sie sich dieses Bild an«, sagte sie, »dann wissen Sie, was ich meine.«
Die Ermittler beugten sich vor, Edwin stand vor einer Hütte, und sein Widerwille gegen das Fotografiertwerden zeigte sich in seinem ausweichenden Blick. Er war zweifellos der umfangreichste Zehnjährige, den sie jemals gesehen hatten. Trotzdem aber hatte er eindeutig die Schönheit seiner Mutter geerbt, seine Haut war blass und marzipanhaft, seine Augen groß und dunkel. Trotz seines Übergewichtes war er ein schöner Junge mit dicken, braunen Locken.
»Wo verbringt er denn seine Zeit«, fragte Sejer. »Seine Freizeit, meine ich.«
»Sie gehen oft zum Bonnafjord hinunter«, sagte sie. »Zum Knabenstrand. Dahin bin ich zuerst gefahren, ich habe sie am Strand und auf dem Steg gesucht.«
»Kann er schwimmen?«
»Nein.«
»Ist es schon einmal vorgekommen, dass er so spät kommt?«
»Noch nie.«
Sie verstummte. Die Männer konnten hören, dass sie schluckte.
»Er wird so schnell müde«, sagte sie dann, »wenn jemand ihn mit dem Auto mitnehmen wollte, hat er das Angebot sicher angenommen, er ist sehr schlecht in Form, er bewegt sich nur, wenn er muss, und er sitzt viel im Haus. Vor dem Computer und dabei isst er irgendwas. Wenn er dann endlich mal nach draußen will, bin ich ja froh, trotz der Sache mit Jonas, aber er war mit Freunden verabredet, deshalb habe ich mir keine Sorgen gemacht, und ich kann ihn doch auch nicht einsperren. Er ist ab und zu mit Sindre zusammen, oder mit Sverre und Isak, ich habe versucht, sie anzurufen, aber bei Nohr ist niemand zu Hause und Marigård hat eine Geheimnummer. Vielleicht haben sie ein Mobiltelefon, aber ich weiß nicht, wie Isaks Vater mit Vornamen heißt. Und dann habe ich natürlich Edwins Telefon angerufen, aber das liegt unten in seiner Schultasche, ich habe so oft mit ihm darüber gesprochen, aber er ist schrecklich vergesslich.«
Sie hielt inne, um Luft zu holen.
Sejer blieb ganz ruhig. Sie hatten schon damit gerechnet, dass ein weiterer Junge verschwinden könnte, aber bisher war es nur ein Gedanke gewesen, mit dem sie auf der Wache gespielt hatten. Ein Gedanke, an den sie nicht glaubten, denn er deutete auf eine Art
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