Wer bin ich ohne dich
Hause und wenn, dann ist er meist erschöpft, gereizt oder geistesabwesend. Helga empfindet ihn als distanziert, sie kommt nicht an ihn heran, kann nicht mit ihm über sich und ihre Gedanken und Bedürfnisse sprechen. Nähe ist einzig über Sexualität möglich, doch für Helga ist dies kein Ersatz für Zärtlichkeiten und Gespräche. Lange Zeit versuchte sie, ihn »aus der Reserve zu locken«, wie sie es ausdrückt, doch er verweigerte sich ihr. »Ich weiß gar nicht, was du willst, dir geht es doch gut. Nein, ich habe nichts gegen dich, aber ich verstehe dich nicht. Was willst du nur?« »Das ist doch | 116 | keine Beziehung, die wir da führen«, klagt Helga. »Er macht sein Ding und ich meines, aber wir haben kaum Berührungspunkte. Wenn ich im Urlaub mit ihm am Meer sitze und den Sonnenuntergang bewundere, dann teilt er dieses intensive Gefühl nicht mit mir. Er ist so nüchtern und unromantisch. Über Gefühle, selbst wenn sie positiv sind, kann und will er nicht sprechen. Ich fühle mich oft sehr einsam in dieser Beziehung.«
Sara hofft, dass eine Paarberatung ihr helfen kann, den Seitensprung ihres Mannes zu verstehen und zu verzeihen. Sie sei sich bewusst, dass sie ihren Anteil an seiner Untreue habe, wie sie gleich zu Beginn der Beratung sagt. Schließlich hätte sie sich nach der Geburt ihres Sohnes sehr auf das Kind konzentriert und ihren Mann vernachlässigt. Sara ist bereit, ihren angeblichen Teil der Schuld auf sich zu nehmen. Und Thomas, ihr Mann, geht eingangs auch darauf ein. Er berichtet, wie sehr er sich auf das gemeinsame erste Kind gefreut hat und wie isoliert er sich nun nach dessen Geburt fühlt. »Ich habe gar nichts mehr zu melden«, klagt er. »Und sexuell läuft auch nichts mehr. Da habe ich mich dann in die Arbeit gestürzt.« Thomas bleibt immer länger im Büro, kommt erst nach Hause, wenn das Kind längst schläft und seine Frau völlig erschöpft vor dem Fernseher eingeschlafen ist. Dass ihn in dieser Situation eine attraktive Kollegin verführen konnte, hält er für sehr nachvollziehbar. Und Sara ist bereit, ihm zuzustimmen. Ihr liegt viel daran, die Ehe zu retten. Sie will ihn verstehen, sie will ihm zeigen, dass sie die bessere Frau ist.
»Ich möchte so gerne manchmal mit ihm reden – über mich, über unsere Beziehung«, sagt Dagmar. Aber das ist nicht möglich. Als ich es neulich mal wieder versuchte und meinte, ich sei nicht glücklich, ich würde seine Aufmerksamkeit vermissen, meinte er nur: ›Immer diese Beziehungsgespräche. Ich weiß nicht, was du willst, ich bin doch ständig da.‹ Das stimmt, er ist ständig da. Aber nur sein Körper ist anwesend, er liegt auf dem Sofa und liest, sieht fern oder fährt mit seinem Rennrad | 117 | Stunden in der Gegend herum. Aber dass er mal fragen würde, wie mein Tag war, wie es mir geht, worüber ich mir Gedanken mache – das kommt nicht vor. Ich frage mich oft, ob ich was falsch mache. Ob ich zu egoistisch bin. Ich weiß nicht, wie viele Ratgeber ich schon gelesen habe, um endlich sicherer zu werden.«
Frauen, die depressiv erkranken, sind häufig unglücklich in und mit ihren Beziehungen zu einem Partner, den sie oft als gleichgültig, kalt, distanziert, ablehnend oder gar feindselig wahrnehmen. Sie fühlen sich alleingelassen, nicht unterstützt und erfahren zu wenig Wertschätzung. Scheitert der Versuch, die als quälend empfundene Kluft zwischen sich und dem Partner zu überbrücken, machen sich tiefe Enttäuschung und eine gefährliche Hilflosigkeit breit. Die Erkenntnis, dass der andere emotional nicht erreichbar ist, dass man von ihm nicht bekommt, was man braucht – sichere Nähe und Intimität – ist oftmals der Auslöser für die Depression.
Untersuchungen bestätigen, dass Frauen sich die Beziehungsdefizite nicht einbilden: Viele bekommen von ihren Ehemännern tatsächlich keine angemessene Unterstützung in Stresssituationen. Und wie schon erwähnt, werden Frauen in unglücklichen Ehen drei Mal häufiger depressiv als Männer, und fast die Hälfte aller unglücklich verheirateten Frauen ist depressiv. In glücklichen Beziehungen ist die Rate der Depressionserkrankungen sehr viel geringer.
Ist ein Partner für den anderen emotional nicht erreichbar, dann verstärkt das das Gefühl von Bindungsunsicherheit. Je unsicherer eine Frau sich in ihrer Beziehung fühlt, desto mehr sinkt ihr Selbstwertgefühl. Wenn die Gefühle einer Frau ignoriert werden und sie diese auch nicht zum Ausdruck bringen kann, dann
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