Wer bin ich ohne dich
sie ihre Bedürfnisse und Wünsche zurückstellen, lieber den Mund halten und ihre Meinung, ihre Bemerkungen, ihren Ärger runterschlucken. Depressive Frauen stellen den Ton in ihren Beziehungen leise, so die Psychologin und Depressionsforscherin Valerie W. Whiffen. Sie reden nicht über ihre Gefühle und halten ihre Bedürfnisse für Schwäche. Sie leugnen oftmals vor sich selbst, dass es Probleme gibt. Ärger zeigen sie nur indirekt, zum Beispiel durch Kopfschmerzen, durch Schweigen, sexuelle Lustlosigkeit oder Rückzug. Indem sie ihre Stimme nicht erheben und mit ihren Ängsten und ihrem Ärger hinterm Berg halten, sorgen sie dafür, dass es, wenigstens oberflächlich gesehen, harmonisch zugeht in ihrem Leben. Mit dieser Bereitschaft zur Anpassung versuchen sie, ihre Angst in Schach zu halten und das Gefühl, dass | 123 | sie nicht liebenswert sind und der andere sich abwenden und sie alleine lassen könnte, zu kontrollieren.
Doch der Preis, den Frauen für diese erkämpfte »Harmonie« bezahlen müssen, ist hoch: Je leiser sie sich verhalten, desto größer wird ihr Depressionsrisiko. Halten Frauen ihre wahren Gefühle zurück, zeigen sie nicht, wie es ihnen wirklich geht und was sie denken, wissen sie irgendwann selbst nicht mehr, was in ihnen vor sich geht. Nur die Gewissheit wird immer stärker: »So wie ich bin, liebt man mich nicht« – was dazu führt, dass eine Frau sich in dem Wunsch, den anderen nicht zu verlieren, selbst verliert. Depression ist die unausweichliche Folge, wenn Zuwendung und Anerkennung nur über die Verleugnung eigener Bedürfnisse und durch übermäßige Anpassung an andere zu bekommen ist.
Die Psychoanalytikerin Verena Kast erlebt in ihrer Praxis immer wieder, dass »diejenigen, die depressiv werden, sehr oft Menschen sind, die meinen, sie müssten nur die Erwartungen anderer erfüllen, sei es nun am Arbeitsplatz, in der Familie oder in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis, um Anerkennung zu finden und geliebt zu werden. Es sind oft Menschen, die sich nicht abgrenzen können und die viele Gedanken darauf verwenden, was andere von ihnen halten und von ihnen erwarten. Aber das klappt natürlich nicht. Sie werden nicht anerkannt, und sie werden nicht geliebt … Das nährt unterschwellige Aggressionen: Da passt man sich so gut an, tut alles für die anderen und bekommt selber nichts. Den Ärger und die Aggression darf man aber nicht zeigen, aus Angst, sonst noch weniger Anerkennung und Liebe zu bekommen. Also sagt man sich: Würdest du dieses und jenes besser machen, dann würde es dir gelingen, Anerkennung zu finden und geliebt zu werden. Ein verhängnisvoller Zirkel setzt ein – und irgendwann geht es einfach nicht mehr.« | 124 |
»Ich spreche nicht über meine Gefühle«
Es ist vor allem ein Gefühl, das depressionsgefährdete Frauen mit großer Anstrengung unterdrücken: Ärger. Frauen, die zur Depression neigen, zeigen ihre negativen Gefühle nicht, weil sie fürchten, dass das ihre Beziehungen noch schlechter machen oder gar gefährden könnte. »Ich spreche nicht über meine Gefühle, wenn ich fürchten muss, dass sie zu Unstimmigkeiten führen würden«, sagt eine depressive Frau, und eine andere meint: »Wenn er in so einem harschen Ton mit mir spricht oder mich für etwas kritisiert, denke ich, dass ich am besten den Mund halten sollte, so tue ich, als ob ich ihn ignorieren würde. In mir aber ist eine Menge Ärger aufgestaut.« Der aber muss zurückgehalten werden, denn aggressive Äußerungen würden die ohnehin schon als fragil und unbefriedigend erlebte Beziehung noch mehr verschlechtern. Die Angst vor den Konsequenzen ist zu groß. Deshalb verdrängen viele Frauen ihre »bösen« Impulse und verhalten sich nach außen hin sehr liebenswürdig, freundlich und angepasst. Depressive Frauen bemühen sich, »nett« zu sein.
Doch damit ist die Wut nicht verschwunden. Die verärgerte Frau bleibt regelrecht auf ihr sitzen. Psychoanalytiker sprechen von einer Über-Ich- oder Schulddepression, wenn Menschen ihre Wut und ihre Aggression, die sie anderen gegenüber hegen, nicht zeigen können. Der andere, dem die Wut eigentlich gilt, wird dagegen geschont. Die scheinbar »schlechten« Gefühle, die eine depressive Frau sich nicht erlaubt, richtet sie gegen sich selbst. Selbstvorwürfe und Schuldgefühle sind Hauptmerkmale der Über-Ich-Depression. Der andere, der die Wut ausgelöst hat, bleibt weiterhin der »Gute«, »böse« dagegen ist die Depressive, die so schlechte Gefühle
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