Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)
bloß? Was um alles in der Welt war mit ihm geschehen?
Diane betrat gar nicht erst den Hausflur. „Ich mache noch einen kurzen Spaziergang, Elli“, sagte sie und lief die Haustürtreppe wieder hinab, auf die Straße. Wie von selbst führten ihre Schritte sie durch die Gassen der Stadt, bis zu dem kleinen Platz mit dem Brunnen. Natürlich hatte sie sich noch gestern vorgenommen, Konrad nicht mehr mit ihrem Kummer zu belasten. Aber das war eben gestern gewesen. Heute brauchte sie dringend seinen klaren Verstand – und auch seine beruhigende Ausstrahlung. Sonst würde sie über das Durcheinander in ihrem Kopf niemals Herr werden.
Er öffnete ihr erst nach dem zweiten Läuten der Glocke die Tür. Die Überraschung, sie abermals hier vor
seinem Haus zu sehen, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Aber sie bemerkte sogleich, dass er anscheinend nicht unangenehm über ihren Besuch überrascht war, wie sie insgeheim befürchtet hatte. Seine Freundschaft schien ihr wie ein kleiner Lichtblick in all dem Chaos um sie herum: Ein merkwürdiger Gedanke, dass er noch vor sehr kurzer Zeit ein völliger Fremder für sie gewesen war.
„Ich habe gehört, was geschehen ist“,
sagte Konrad zu ihr und seine warmen, braunen Augen forschten in ihrem Gesicht. „Du bist noch blasser, als an dem Tag, an dem ich dich zuletzt gesehen habe.“
Er bedeutete ihr mit einer Geste, einzutreten. Diane folgte seiner Einladung und stand gleich darauf in seiner kleinen, warmen Stube. „Es tut mir wirklich leid, dich schon wieder zu stören“, entschuldigte sie sich. “Aber... ich weiß mir einfach keinen Rat mehr.“
„Setz dich“, bot Konrad ihr an und nahm direkt an ihrer Seite Platz.
„Ich sehe ständig Bernhards Gesicht vor mir“, erklärte Diane ihm, während sie unruhig auf dem Sessel herumrutschte „Jetzt bin ich wieder im Haus meines Vaters, und dort ist eine Grabesstille eingekehrt... Als wenn der Tod zwischen seinen Mauern lauern würde.“
Konrad, der neben ihr auf einem der Sessel saß, streckte eine Hand nach ihr aus und legte sie ihr – nach einigen Augenblicken des Zögerns – auf die Schulter. Diese Geste und sein Blick sagten mehr als viele Worte. Diane lehnte sich, ohne darüber nachzudenken, was sie tat, vertrauensvoll an ihn. Es schien die natürlichste Sache der Welt zu sein, einige Minuten in seinem Arm zu verweilen, die Augen zu schließen und die Gedanken treiben zu lassen. Sie fragte sich, ob sie es spüren würde, wenn Bernhard nicht mehr lebte. Ob irgendeine Stimme in ihrem Inneren existierte, die ihr die schmerzliche Wahrheit verriet. Bisher hatte sie kein einziges solches Zeichen wahrgenommen, nur die unaussprechliche Angst über das Schicksal ihres geliebten kleinen Bruders.
Konrad strich ihr ganz vorsichtig durchs Haar und schwieg noch immer. Er wartete darauf, dass sie ihren Kummer von selbst in Worte fassen würde, wollte sie anscheinend nicht drängen.
„Er... er hatte so eine Angst, dass wir uns nicht mehr wiedersehen“, meinte sie nach einer Weile des Schweigens mit brüchiger Stimme. „Wenn ich nicht fortgegangen wäre... oder wenn ich ihn mitgenommen hätte...“
„Es ist nicht deine Schuld“, betonte Konrad ernst. „Du darfst dir nicht die Schuld daran geben.“
„Ich habe keine Schuld“, erwiderte ihm Diane leise. „Aber ich hätte es verhindern können.“
Der Trost seiner Nähe, den ihr außer ihm nur noch Anna spenden konnte, tat ihr gut, aber ihre Sorgen konnte sie nicht beseitigen.
Wie völlig anders war es gewesen, in Roberts Armen zu liegen...
Er hatte sie festgehalten, als sei sie in Wahrheit ein Teil von ihm. Sie hatte sich selbst und ihre Umwelt vergessen können und war in einem Rausch von Gefühlen fortgetragen worden. Ein Blick in diese schwarzen, geheimnisvollen Augen hatte ihr gezeigt, wohin sie in Wahrheit gehörte: An die Seite dieses Mannes, der ihr eine völlig andere Art der Liebe gezeigt hatte, als die, die ihr vertraut war. Sie hatte ihn mit allen Sinnen und mit ihrer gesamten Seele begehrt und geliebt. Und er hatte sie betrogen...
„Ich war heute in Scarheim“, flüsterte sie.
Sie spürte, dass seine Muskeln sich für einen Augenblick anspannten:
„Bei... Herrn Adlam?“ fragte er zögernd.
„Ja.“
Wieder schwiegen sie beide, bis Diane endlich weitersprach: „Ich fühlte mich zu Hause wie eingesperrt. Als müsste ich für alle Ewigkeiten dasitzen und auf etwas warten, das niemals geschehen würde. – Deshalb habe ich
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