Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)
Einbände der Bücher und die Umschläge der Schriftmappen.
Es roch nach Staub und altem Pergament. Jedoch von zerstörerischer Feuchtigkeit waren die teils sehr alten Schriften völlig verschont geblieben. Erstaunlicherweise hatten sie gerade hier, tief unter der Erde, einen sicheren Ort gefunden, um die Zeiten zu überdauern. Dieses unterirdische Gewölbe war wohl das einzige auf der Erde, in dem nicht von Zeit zu Zeit das Wasser an den Wänden herablief.
„All diese Schriften gehören mir“, hörte ich die Stimme des Priesters sagen und wurde somit wieder an seine Anwesenheit erinnert. „Aber über das darin verborgenen Wissen wirst auch du, ebenso gut wie ich, sehr bald verfügen können.“
Ich hätte niemals erwartet, dass sein geheimer Bücherschatz derartig umfangreich sein könnte. Hier hatte sich ein wahres Königreich des Wissens angesammelt. Welche Macht konnte derjenige besitzen, der in Besitz dieses Wissens war und dabei alle Anlagen hatte, es anzuwenden?
Der Priester sprach weiter: „Du bist einmal dem Irrtum unterlegen, ich hätte die Absicht, eine Katastrophe über diese Welt zu bringen und alles zu zerstören, was uns Menschen umgibt. – Wenn du das hier siehst: Glaubst du, dass ich all diese Schätze gesammelt und gehortet habe, um mein eigenes Ende herbeizuführen – und das Ende der Welt, in die ich gehöre? Nein, mein Freund, ich denke nicht, dass du das heute noch für wahr hältst. Alles, was ich anstrebe, ist, einen Weg zu finden, diese Welt wieder ganz zu machen. Den Geist und die Materie wieder zu vereinen. Einen neuen Platz für die mystischen Mächte zu schaffen und so denjenigen Menschen ihre längst verlorene alte Stärke wiederzugeben, die nicht ihre Augen verschließen wollen vor dem Übernatürlichen. Eine Heilung. Keine Zerstörung.“
Ich fasste weiter Buch um Buch, Schriftrolle um Schriftrolle ins Auge, ohne ihm zu antworten.
In meinem Inneren spürte ich ein heftiges Verlangen, jedes einzelne Werk in die Hand zu nehmen, die Seiten zu durchblättern und darin zu forschen. Zu forschen nach den unzähligen Kenntnissen, die mir für so lange Zeit verborgen geblieben waren... Die Grundlagen meiner eigenen Existenz zu ergründen...
„Das ist dein Preisgeld“, sagte der Priester, „für ein wenig Treue und Achtung.“
Am anderen Ende des Raumes angelangt, zu Füßen des steinernen Podestes, wandte ich mich zu ihm um. Er stand im Lichtkegel der einzigen brennenden Fackel, gleich neben der Tür, hell erleuchtet von den flackernden Flammen. Draußen, im Tageslicht, hätte man ihn noch für einen ganz normalen Spaziergänger halten können. Doch hier unten, im Feuerschein, nahmen seine Züge völlig andere Qualitäten an. Es war eine perfekte Verwandlung vom konventionellen flanierenden Städter zu der außergewöhnlichen Erscheinung, die ich seit jeher kannte: Wenn er gewillt ist, es dich fühlen zu lassen, geht eine physisch spürbare Kraft von ihm aus, die einen Menschen bis ins Mark durchdringen kann. Sein Gesicht, seine Körperhaltung scheinen komplett verändert. Seine Präsenz mutet irreal an.
Als er mich über die Distanz hinweg fest ansah, schimmerten aus der Schwärze der Schatten unter seinen buschigen Brauen seine Augen wie Wassertropfen. Und das Erbe des Wissens, das über die Jahrtausende hinweg auf uns gekommen war, stand schweigend und wartend zwischen uns.
„Da hast du dir einen Schatz angehäuft“, sagte ich, „mit dem du selbst einen Heiligen in die Hölle locken könntest.“
„Die Hölle gibt es nicht“, erwiderte er. „Es gibt nur die Erkenntnis.“
„Erkenntnis?“ fragte ich. „Das klingt ganz nach dem berüchtigten Baum.“
„Ja. Sie aßen von seinen Früchten und wurden erst dadurch zu selbstverantwortlichen, freien Menschen.“
Er hatte Recht.
Nur derjenige, der Wissen besitzt, hat auch die Freiheit, wirklich freie Entscheidungen zu treffen.
Wie kann ein Mensch ein vernünftiges Urteil fällen, ohne einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und einen tieferen Einblick in die Materie zu gewinnen?
WER BIST DU? stellte ich die stumme Frage, während ich seinen Blick erwiderte. UND WAS HAST DU AUS MIR GEMACHT?
Doch die Antworten auf meine Fragen waren heute nicht zu erwarten.
Sie befanden sich in seinem Kopf, der sich nicht von mir durchdringen ließ. Sie waren vielleicht auch in den vielen Schriften um mich herum, doch sie zu finde beanspruchte Zeit. Zeit, die er mir heute nicht geben wollte. Er gönnte mir nur diesen kurzen Blick
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