Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)
anderen Ende um einen Baumstamm geschlungen. Er saß zwischen den Wurzeln des Baumes, auf dem feuchten Waldboden, mit dem Rücken an den Stamm gelehnt.
Die beiden Männer hatten sich furchtbar verkleidet, sodass sie aussahen, wie große, schwarze Gespenster. Ihre Gesichter konnte er nicht sehen, denn sie waren unter ihren schwarzen Kapuzen versteckt. Aber manchmal, wenn sie in seiner Nähe waren, konnte er hören, was sie sagten. Sie warteten auf jemanden, der Lukas bis zum nächsten Abend irgendwo hinbringen würde, hörte er aus ihren mit hohlen, finsteren Stimmen geraunten Worten heraus.
Die Männer hatten Lukas schon am vorigen Abend erwischt, ganz in der Nähe des Pferdestalls, als er gerade hungrig den Weg nach Hause hatte einschlagen wollen. Brutal hatten sie ihn mit sich gezerrt, und Lukas hatte sie im ersten Moment wirklich für Gespenster gehalten, oder für böse Teufelsgestalten. Sie waren so plötzlich aufgetaucht, als hätten sie schon vorher unsichtbar ganz in der Nähe gestanden. Mit roher Gewalt hatten sie ihm diesen ekligen Knebel in den Mund gepresst und seine Arme und Beine mit schmerzend festen Griffen gepackt, um ihn fort zu tragen. Tief in den Wald hatten sie ihn gebracht, so weit, dass selbst Lukas, der gern immer überall herumstreunte, sich nicht mehr auskannte. Und das grausamste war die Erdhöhle gewesen, in die sie ihn über Nacht gesteckt hatten.
Feucht und kalt und finster war die Nacht gewesen und Lukas hatte Ängste ausgestanden, die er in seinem kurzen Leben vorher nie gekannt hatte. Unheimliche Geräusche, umherschleichende Nachtjäger und vor allem diese grauenvolle Einsamkeit hatten ihn in keiner einzigen Minute zur Ruhe kommen lassen. Seine Arme und Beine waren von der Blutzufuhr getrennt gewesen, sodass sie völlig taub und gefühllos wurden, nachdem der Schmerz in ihnen nachließ.
Und jetzt brannten sein Mund und seine Kehle, so trocken waren sie. Er war völlig ausgehungert. Aber sein Horror davor, was mit ihm noch geschehen würde, überwog dies alles. Denn als die beiden schwarzen Männer ihn am nächsten Tag wieder aus dem Erdloch hervorgeholt hatten, da hatte einer von ihnen zu ihm gesagt.
„Heul’ doch jetzt noch nicht, Kleiner. Die nächste Nacht wird tausendmal schlimmer für dich.“
Im Stillen rief er nach seinem Papa, der in seiner Vorstellung in einer ganz anderen Welt zu sein schien. Lukas selbst war in der Hölle, und es war schlimmer, als er es je von Pfarrer Brechts in der Kirche vernommen hatte. Da war kein Feuer, und auch den Himmel und die Sonne gab es offensichtlich noch, denn beides war durch das Blätterdach der Bäume über ihm zu erkennen. Die Hölle war also nicht unterirdisch, sie war mitten im Wald. Und dort wurde man getreten, geschlagen, in der Erde verbuddelt und mit Stricken verschnürt. Und man hatte dort Hunger und Durst, so heftig, dass einem der Magen schmerzte.
„Er muss gleich kommen, er wollte den Jungen doch holen“, sagte einer der beiden dunklen Gestalten über ihm mit einer menschlichen Stimme.
„Er kommt schon, hab’s mal nicht so eilig“, erwiderte der andere etwas ärgerlich. „Die Sache braucht eben Zeit. Es muss alles vorbereitet werden, für die Nacht. Es soll doch alles perfekt werden, jetzt, wo er endlich wieder zurück ist. Heute ist eine ganz besondere Nacht.“
„Und der Kleine hier wird dazu beitragen“, fügte der erste hinzu und ließ ein leises, dunkles Lachen hören. „Und das gleich in doppelter Hinsicht.“
„Ein totes Fohlen im Stall ist eine Sache, das war auch nur ein Teil des Vorspiels“, bestätigte der zweite. „Aber die Leute werden ihn steinigen, wenn man den Jungen in seinem Haus findet.“
Lukas gab ein wimmerndes Geräusch von sich, doch lieber hätte er geschrien. Er verstand nicht, wovon die Männer redeten, er hatte nur eine einzige Frage an sie: Was habe ich euch getan, dass ihr mir so weh tut?
Das Seil grub sich tief in die Handgelenke und über Nacht hatte er sich die Stellen darunter blutig gescheuert, weil er nicht stillhalten konnte. Jetzt brannten die beiden Gelenke wie Feuer. Er malte sich aus, sein Papa würde ihn endlich hier finden und mit den beiden bösen Männern kurzen Prozess machen, sie rasend vor Wut zusammenschlagen. Sein Papa war ein starker Mann, aber nur, wenn er gerade nicht so viel Schnaps getrunken hatte. Aber hier in der Hölle würde der Papa ihn bestimmt nicht finden, niemand würde ihn finden. Er würde seinen großen Bruder Tom nie wiedersehen, und
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