Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)
füllten sich mit Tränen. Ihre Angst lag spürbar in der Luft. Wie konnte sie so an diesem ärmlichen, arbeitsreichen Leben hängen, ohne Aussicht darauf, dem jemals entfliehen zu können? Aber gehörte sie in Wahrheit nicht zu den wirklich starken Menschen?
Ich bückte mich zu ihr hinunter und schnitt ihre Fesseln mit dem Messer durch. Sie blieb sitzen, wo sie war, mit dem Rücken an einen großen Stein gelehnt. Natürlich wusste sie nicht, dass sie frei war. Sie erwartete von mir nichts Gutes. Vielleicht eher, dass ich sie schlagen würde, wie auch die anderen schwarz gekleideten Männer mit den hinter Kapuzen verborgenen Gesichtern es getan hatten. Oder dass ich das Messer, das ich noch immer in der Hand hielt, dazu benutzen würde, um ihr die Kehle durchzuschneiden.
Ich ließ mich auf den Waldboden fallen, ihr direkt gegenüber, und sah ihr eine Weile schweigend in die Augen.
Unabsichtlich quälte ich sie damit noch mehr, denn sie wusste natürlich nicht, wie sie mein Verhalten deuten sollte. Ich wollte ihr jedoch in diesem Fall wirklich nichts Böses antun, ich wollte nur ihre Seele erforschen.
Irgendwann sagte ich zu ihr, sie könne nach Hause gehen, sie sei frei.
Dann stand ich auf und ließ sie allein.
Leider gelang es der jungen Frau nicht, in ihr Dorf zurückzukehren.
Einer der schwarzen Brüder erwischte sie wenige hundert Meter entfernt im Wald. Er schlug ihr derart hart gegen den Hinterkopf, dass sie das Bewusstsein verlor und nie wieder erwachte. Unser Meister stellte mich noch am selben Tag zur Rede. Ich ließ ihn in seinem Glauben, den er mit einem amüsierten Lächeln vortrug, ich hätte mich in die Bauerstochter wohl ein wenig verguckt.
Den folgenden Tag und die Nacht verbrachte ich irgendwo draußen, in einer Waldlichtung am Fluss.
Ich sah dem Wasser zu, wie es in kleinen Wellen gegen die Uferböschung schlug, an ihr empor- und wieder hinabkletterte. Die silbrigen, winzigen Fische direkt unter der Wasseroberfläche erlebten ihren kleinen Fischalltag: Sie schnappten nach ins Wasser gefallenen Insekten, die mit dem Strom trieben, wichen dabei geschickt den Steinen aus, die ihnen im Weg lagen und wagten den ein oder anderen kühnen Sprung aus dem kühlen Nass heraus.
Ich starrte nachts in den dunklen Himmel - gedankenleer - und folgte mit den Augen den vom Mondlicht angestrahlten Wolken. Als der Morgen dämmerte, hatte ich eine feste Entscheidung getroffen.
5. Blutige Botschaft
------- MATHILDE ------
Weit vor Sonnenaufgang ging ihr Mann in seine Backstube und bereitete das frische Brot für den folgenden Tag. Mathilde hörte ihn im Haus rumoren, die altbekannten Geräusche ihrer dreißigjährigen Ehe. Sie drehte sich im Bett noch einmal um, wollte noch eine halbe Stunde Schlaf schöpfen, bevor sie endgültig aufstehen und ihm zur Hand gehen musste.
Da vernahm sie plötzlich seine hastigen Schritte auf der Stiege: Er kam wieder zu ihr hinauf, die alten Stufen knarrten unter seinen harten, schnellen Tritten.
Was er wohl nun schon wieder für ein Problem hatte? Immer musste er sie stören, wenn sie gerade ihre Ruhe genoss! Mathilde hob schläfrig den Kopf, als ihr Mann die Schlafstube betrat und das schwache Licht von unten aus der Backstube durch den Türspalt fiel.
„Was ist los?“ knurrte sie ihn an.
„Es... da ist... da ist...“, stammelte er völlig durcheinander.
Mathilde war genervt.
„ Was ist? “ wiederholte sie mit ärgerlicher Stimme.
„Die Polizei... wir müssen die Polizei holen! Da ist ein Toter im Laden!“ sprudelte es aus ihm heraus und Mathilde stellte fest, dass er völlig verängstigt war.
Ihren schmerzenden Rücken ignorierend bemühte sie sich nun endlich aus dem Bett.
„Hast du auch richtig hingeguckt? Da war sicher nur irgendein Schatten“, brummte sie dabei, doch innerlich war sie ganz aufgewühlt und erwartete das Schlimmste. Während sie ihrem Mann im Nachthemd die Stiege hinunter folgte, bekreuzigte sie sich zweimal und bat in einem kurzen Stoßgebet um den Beistand Gottes. In der Backstube war es heiß, der Ofen lief auf vollen Touren. Mehrere Lampen brannten hier, der Raum war beinah taghell erleuchtet.
Sie durchquerten die Backstube und der Bäcker öffnete zögerlich die Tür zum Verkaufsraum. Hier war es dunkel. Mathilde griff sich eine der Öllampen, die auf dem Arbeitstisch herumstanden, und drängte sich an ihrem Mann vorbei hinter die Ladentheke. Dort hob sie die Lampe an und drehte sich im Halbkreis um die eigene Achse,
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