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Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)

Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)

Titel: Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Gees
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unbekannte, geheime Versteck all seiner alten Schriften brachte.
    Was ich zu lesen bekam, erschütterte meinen Glauben an diesen Mann und an unsere gemeinsame Sache. Der Text war in der Alten Sprache geschrieben. Er war sogar für einen darin geübten Menschen, wie ich es zu dem Zeitpunkt war, schwierig, ihn zu lesen. Teile der Beschriftung waren stark verblichen. Das alte Papier war sehr spröde und hatte zahlreiche Risse.
    Es war ein Lied, mittels mündlicher Überlieferung durch die Jahrtausende gerettet und schlussendlich, wie die Schriftrolle verkündete, Anno 1406 auf Papier gebannt. Der uralte Liedtext handelte von dem endgültigen Sieg des Bösen in dieser Welt, von der Wiederkehr und beginnenden Herrschaft des ‘Verleumders’. Der ‘Verleumder’, im Griechischen Diabolos genannt, entspricht dem personifizierten Bösen, das im christlichen Glauben den Namen ‘Satan’ erhielt. Er soll, gemeinsam mit einem Heer sogenannter „Dunkler Engel“ an die Unterwelt gekettet sein, von wo aus sein großer geistlicher Einfluss sich über die Welt erstreckt. Bei seiner Befreiung würde er endgültig die Herrschaft in die Hand nehmen.
    Ich versuche, einen Teil des Textes so gut wie möglich zu übersetzen, obwohl die Alte Sprache in unseren modernen Worten kein Äquivalent findet:
    „Sie rufen ihn, die Drei, hört ihre toten Stimmen.
    Sie reißen die Tore auf und sehen aus leeren Augen dem vollkommenen Tod ins Angesicht.
    Die Drei.
Der Same des alten Königs erblüht.
Elurius gab seine Kraft dahin.
Der König ersteht neu.
    Asche im Wind, Verderben dem Menschengeschlecht. Körper und Seelen vergehen wie Stroh im sengenden Feuer.“
    Das meiste dieser Worte war und ist mir ein Rätsel. Doch durch das, was ich in den zwei Jahren meiner Lehre bei dem dunklen Meister alles erlebt hatte, schien mir selbst eine so irreale Prophezeiung erfüllbar zu sein. Im folgenden Text wurde sogar eine, zugegebenermaßen für mich kaum nachvollziehbare, Beschreibung der Zeremonie gegeben, die die „Drei’“ ausführen würden, um den Diabolos herbeizurufen.
    Nachdem ich dies alles zweimal durchgelesen und in mein Gedächtnis eingebrannt hatte, stellte ich mir die Frage, ob der Priester dem vollkommenen Wahnsinn anheimgefallen war: Plante er, sich selbst zu vernichten, seine treuen Schüler, all seine Helfer, ja, wohl die ganze Menschheit? Wollte er selbst, gemeinsam mit Nicolas und mir, das direkte Tor zur Hölle werden, durch das ein Wesen zu uns gelangen könnte, das nicht einmal die Seelen der Menschen verschont?
    Wenn man darüber länger nachdachte: Vielleicht war dies alles doch nur die absurde Phantasiewelt eines komplett Irren. Doch was immer es wirklich war, an einer solchen Zeremonie wollte ich nicht teilhaben.
    Vielleicht hatte ich damals doch noch ein kleines bisschen Moral in mir.
Die Schriftrolle legte ich sorgfältig an ihren ursprünglichen Ort zurück.
    Am folgenden Tag geschah etwas sehr Seltsames, was meinem Leben endgültig eine andere Richtung gab.
    Ich blickte in die Augen einer sehr jungen Frau, etwa in meinem eigenen Alter. Sie war eine Bauerntochter aus irgendeinem kleinen Ort an der Küste. Die Helfer hatten sie hergeholt, sie war von ihnen heftig geschlagen worden. Die Wunden an ihrem Körper und die zerrissene Kleidung sprachen Bände. Sie war an Händen und Füßen gefesselt, eingeschnürt wie ein gefangenes Tier. Der Priester hatte ihr ein Mittel gegeben, dass sie bis zur Nacht ruhig stellen würde, bis sie endgültig qualvoll ihr Leben lassen sollte.
    Ihre Augen waren groß und weit, voller Schmerz und Angst.
    Es war das erste Mal, dass ich überhaupt einen Gedanken an die Empfindungen unserer wehrlosen Opfer verschwendete. Und plötzlich wurde mir klar, dass in diesen aufgerissenen Augen tausendfach mehr Menschlichkeit lag, als ich jemals in mir selbst entdecken würde. Ich streckte meine Hand aus, berührte ihren zitternden Arm, und mir offenbarte sich ihr Leben, so, wie es gewesen wäre, wenn wir sie nicht vorzeitig zum Tode verurteilt hätten: Eine Heirat, viele Kinder. Fleißige Hände, die Gutes taten. Ihre alte, kranke Mutter würden sie pflegen, diese Hände, Die Kinder versorgen, oft genug trösten, zärtlich festhalten. Ein nicht sonderlich interessantes Leben, vielleicht. Ein Leben mit Entbehrungen ganz bestimmt. Aber keinesfalls ein unwertes Leben. Sie würde ein Halt sein für viele andere.
    Als ich aus meiner Manteltasche ein Messer hervorzog, schluchzte sie leise und die großen Augen

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