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Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)

Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)

Titel: Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Gees
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weiß ich nicht. Dies zu testen wäre aber alles andere als eine gute Idee. Im Grunde konzentrieren sich meine Sorgen auch auf ganz andere Dinge:
    Ich weiß nicht mehr, wohin ich gehöre.
    An dem Tag, an dem ich in meine christliche Taufe einwilligte, das war vor etwas mehr als zwei Jahren, glaubte ich, die Vergangenheit endgültig überwunden zu haben. Ich hoffte, auf diesem Weg endlich die guten Mächte kennenzulernen, an das all die übrigen Menschen so fest zu glauben scheinen. Glaube und Hoffnung sind nun wieder zerrüttet. Die guten Mächte, deren Spuren ich in den Seelen einiger weniger, einfacher Menschen entdeckt zu haben glaubte, sind mir ferner denn je. Die junge Frau, in deren Augen ich vor vielen Jahren die etwas Wahrhaftiges gesehen habe, ist lange tot. Man hat sie erschlagen und all ihre innere Liebe und ihre Gebete zu Gott haben ihr tragisches Ende nicht zu verhindern vermocht.
    Ich erinnere mich an eine kalte Winternacht, als ich neben dem Meister an einem Feuer neben dem Fluss saß. Es war November, und wir waren allein. Um uns herum lag nur der weiße, jungfräuliche Neuschnee. Ich ahnte, worum diese Unterhaltung gehen sollte: Der große Tag stand ja nun direkt bevor, und ich war ihm in den letzten Tagen ausgewichen, hatte mich bei unseren nächtlichen Zusammentreffen rar gemacht.
    Die schwarze Kapuze des Meisters lag neben dem Feuer, sein Gesicht war in das rot-goldene Licht der Flammen getaucht. So zeigte er sich nur Nicolas und mir, seinen beiden liebsten Schülern. Sein Gesicht hatte etwas sehr Energisches: harte, feste Züge. Das Kinn war breit und eckig, die Augen schmal unter buschigen Brauen. Im Gegensatz dazu stand seine Stimme. Sie war weich und harmonisch, sehr angenehm. Ganz egal, was er sagte, es klang beinah immer freundlich. Selbst dann, wenn er den schlimmsten Fluch aussprach.
    „Zeig mir deine Hand“, sagte er und sah mir dabei in die Augen.
    Ich tat, was er sagte und hielt ihm die rechte Hand hin. Er drehte meine Handfläche nach oben und aus der Tasche des schwarzen Gewandes zog er einen langen, spitzen Gegenstand hervor, den er mir einen Moment lang zeigte. Es war nichts weiter, als ein eiserner Nagel mit einer gut geschmiedeten Spitze.
    Die schmalen Schlitze seiner Augen funkelten im Licht des flackernden Feuers. „Wärst du bereit, mir eine Probe deiner Zuverlässigkeit zu geben?“ fragte er.
    „Ich glaube kaum, dass das nötig ist“, sagte ich, seinen Blick ohne das geringste Zögern erwidernd. Meine Hand zog ich jedoch nicht zurück.
    Er lächelte leicht. Sein Mund war dabei ein schmaler, langer Strich.
    „Weißt du, Robert, ich brauche jeden einzelnen unserer Brüder. Aber du bist mir besonders wichtig.“
    „Tu, was du willst“, forderte ich ihn auf.
    Er setzte die Spitze des Nagels auf die Mitte meiner Handfläche und drückte sie in das Fleisch hinein. Dabei hielt er meine Hand nicht fest, ich hätte sie jederzeit zurückziehen können. Als Blut aus der von ihm verursachten Wunde kam, hielt er inne. Mit einer leichten Berührung seiner Fingerspitzen veranlasste er mich, mit der Handfläche ein Gefäß zu bilden, sodass meine Fingerspitzen nun nicht mehr auf ihn, sondern nach oben wiesen. Im warmen Licht des Feuers beobachteten wir beide das Blut in meiner Hand, wie es sich zunächst in der Mitte zu einem Tropfen sammelte und dann in einem dünnen Rinnsal in Richtung der Finger rann. Es schien nur diesen einen Weg zu kennen, denn ein weiteres Rinnsal bildete sich nicht. Und statt sich an den Gräben der Handlinien zu stauen und diese, wie es dem natürlichen Fluss des Blutes entsprechen würde, auszufüllen, um dann an den Handseiten herabzutropfen, rann es zu den Fingern hinauf und erreichte sogar beinah das untere Gelenk des Mittelfingers.
    Dass die von der Menschheit als „Naturgesetze“ bezeichneten Gegebenheiten gar nicht zwingend in jeder Situation zutreffen müssen, das hatte ich bereits vorher ausführlich gelernt. Und so gab es auch keine Anlass für mich, diese kuriose Erscheinung zu bestaunen. Der Meister lächelte mir über meine Hand hinweg zu. Seine Augen lagen nun unter den üppigen Brauen im Schatten, als trüge er eine dunkle Maske.
    „Du gehörst zu uns“, stellte er mit leiser, tiefer Stimme fest. „Du folgst nur dem einen Weg, stetig und treu: Meinem Weg.“
    Daraufhin erwiderte ich nichts. Ich dachte nur bei mir, dass selbst ein so begabter Mann wie er sich hin und wieder täuschen kann.
    Für die Nacht zum dreiundzwanzigsten November

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