Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)
der Stimmen zu vibrieren. Die Schwingungen, die der Gesang verursachte, gruben sich in den Kopf jedes einzelnen, man konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Ein schwerer, narkotisierender Duft, der sich immer mehr verstärkte, machte es schwierig, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren, als auf die magischen Worte.
Der Priester hantierte dort unten auf der Erde mit den Glasfläschchen und betonte durch theatralische Gesten die zum größten Teil dem Zweck dienten, die Umstehenden in seinen Bann zu ziehen, jede seiner Bewegungen.
Ich legte meine Handflächen flach auf die Platte des Altares, wie ich es schon vor Beginn der Zeremonie getan hatte, und sprach im Flüsterton meine eigenen Formeln, bis ich plötzlich bemerkte, dass Nicolas mir seinen Kopf zugewandt hatte und mich ansah. Sein Gesichtsausdruck sagte mir, dass er das, was ich da tat, nicht einordnen konnte. Und so versuchte ich, einen Eindruck der Selbstverständlichkeit zu erwecken und trotz seines Blickes ruhig meine Handlung zu Ende zu bringen, um sein Misstrauen nicht noch mehr herauszufordern.
Nicolas wandte die Augen von mir ab und konzentrierte sich wieder auf den Meister. Er schien jedoch weiterhin irritiert zu sein, denn als der Meister ihn mit einer Geste anwies, zu ihm zu kommen, da warf er mir abermals einen kurzen fragenden Blick zu, bevor er der Aufforderung nachkam. Kurze Zeit später folgte ich Nicolas, um dem Priester zu assistieren.
Bis zu dem Zeitpunkt, als der Meister die mir bekannte mittelalterliche Schriftrolle aus einem sorgfältig verschlossenen silbernen Kästchen hervorzog, das er unter dem Gewand verborgen hielt, verging eine geraume Zeit. Die vorbereitende Zeremonie war äußerst ausgefeilt und sollte ihren Höhepunkt in der Opferung des neugeborenen Mädchens finden, um dann direkt zu dem großen Ritual überzuleiten, das unserem Meister so sehr am Herzen lag.
‘“S ie reißen die Tore auf und sehen aus leeren Augen dem vollkommenen Tod ins Angesicht“ hatte die alte Schriftrolle prophezeit. Und Nicolas glaubte fest daran, wir würden unsere eigene Vollkommenheit erreichen!
Bis hierher hatte ich mein Bestes getan, das Ritual an so vielen Stellen, wie möglich zu manipulieren. Nun, da der Meister mit der Schriftrolle in der Hand wieder hinter dem Opferstein stand und seine Hände über dem Kind erhob, würde sich zeigen, ob meine Bemühungen mit Erfolg gekrönt waren.
Nicolas stand wieder zu Linken des Priesters. Seine Augen waren leer und starr, er befand sich in einem tranceartigen Zustand. Seine Bewegungen waren seltsam kantig und die Stimme fügte sich in die perfekte Einheit des Gesangs der Umstehenden ein. Jeder einzelne der Schwarzen Brüder war inzwischen in den Bann des Rituals gezogen. Die beinah greifbare Spannung, die den Raum um uns herum beherrschte, hatte sie alle erfasst, füllte ihren Geist völlig aus. Auch ich spürte genau, dass wieder einmal eine fremde Macht unter uns weilte. Die Realität war nicht mehr dieselbe: Irgendwo klaffte ein Loch und heraus strömte etwas, das die Natur selbst veränderte. Bloße Worte sind unzulänglich, dies zu beschreiben. Unsere moderne Sprache ist dafür gemacht, die Realität so zu benennen, wie wir sie heute sehen. Allein die Alte Sprache, die ich bei dem dunklen Meister gelernt habe, kennt Worte, die das Transzendentale ausreichend erfassen können. Sie stammt aus einer Zeit, als die Natur für uns nicht nur das war, was wir sehen, schmecken, riechen, fühlen und hören konnten.
Ich befand mich wieder an der rechten Seite des Meisters, als ich beschloss, dass nun der Augenblick gekommen war, den endgültigen Schlussstrich zu ziehen. Der Meister holte ein kurzes, scharfes Messer hervor, dessen Klinge er mit den Fingerspitzen berührte, den Blick nach unten gerichtet, auf das vor ihm liegende Kind. Er nahm das Baby mit der linken Hand hoch, während er in der Rechten das Messer behielt.
Ich trat stumm einige Schritte vom Altar zurück.
Der Priester, aus dem Konzept gebracht, drehte sich ruckartig zu mir um und sah mich an.
Ich blickte fest auf den Opferstein. Das seit Jahrhunderten getrocknete Blut auf der Oberfläche verfärbte sich im Bruchteil einer Sekunde von seinem toten Braunton zurück zu einem dunklen, schweren Rot. Aus der unendlichen Tiefe der Zeit, die dieser Altar bereits überdauerte, schrillten plötzlich Stimmen zu uns herüber: panische Schreie, erbärmliches Flehen, kreischende Schmerzenslaute. Die Stimmen der vielen Opfer.
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