Wer Blut vergießt
hypothetische Frage.« Melody warf ihr einen kurzen Blick zu, als sie die Tür aufhielt. »Aber ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Vor zehn Jahren hätte ich gesagt, nie im Leben. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Man wird da schon sehr zur Selbstständigkeit erzogen. Und viele Mädchen – und auch Jungen – knüpfen dort lebenslange Freundschaften. Leider galt das nicht für mich.«
»Ich frage mich, ob es für Shaun Francis galt«, sagte Gemma.
»Kann ich Ihnen helfen?«, frage eine Frau mit angenehm mütterlicher Ausstrahlung am Empfang.
Gemma zückte ihren Dienstausweis und erklärte, dass sie einen Termin beim Direktor hätten.
»Ach ja, genau.« Die Frau lächelte, offenbar kein bisschen aus der Fassung gebracht durch einen Besuch von der Kriminalpolizei. »Im Moment ist noch ein Schüler bei ihm, aber ich sage ihm Bescheid, dass Sie hier sind.«
Während sie mit gedämpfter Stimme etwas in eine Gegensprechanlage sagte, sah Gemma sich im Empfangsbereich um. Das Gebäude war offenbar vor nicht allzu langer Zeit renoviert worden, und die teilweise verglaste Decke schuf eine helle, offene Atmosphäre.
Die Tür zum Büro des Direktors ging auf, und ein Junge kam heraus. Er war dunkelhäutig und etwa in Kits Alter. Wie zuvor die Empfangsdame lächelte er freundlich, als er Gemma und Melody erblickte. Nach allem, was Gemma bisher über Shaun Francis erfahren hatte, musste er an dieser Schule wohl eher ein Außenseiter gewesen sein.
»Direktor Carstairs hätte jetzt Zeit für Sie«, sagte die Empfangsdame und nickte in Richtung der offenen Tür.
»Oje, wir müssen beim Direx antanzen«, flüsterte Melody in Gemmas Ohr, ehe sie hineingingen und der Mann am Schreibtisch aufstand, um sie zu begrüßen.
»Ich bin Wayne Carstairs.« Er hielt Gemma die Hand hin. »Inspector James? Und …«
»Detective Sergeant Talbot«, stellte Melody sich vor, während er ihr ebenfalls die Hand schüttelte.
Gemma wurde bewusst, dass sie einen typischen Akademiker mit Ellbogenschonern an der Tweedjacke erwartet hatte. Doch Wayne Carstairs, ein blonder, breitschultriger Mann um die fünfzig, erinnerte eher an einen Rugbyspieler als an einen Schulleiter, und sein Akzent war ihrem eigenen näher als dem von Melody.
Er forderte sie auf, Platz zu nehmen, und setzte sich dann wieder an seinen Schreibtisch. »Sie wollten mit mir über einen ehemaligen Schüler sprechen, Shaun Francis.« Er tippte auf einen Aktenordner, der vor ihm lag. »Ich habe seine Akte für Sie herausgesucht.«
»Danke, dass Sie sich Zeit für uns nehmen, Mr Carstairs«, sagte Gemma. »Wie ich bereits am Telefon sagte, ist Shaun Francis unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen.«
»Es tat mir sehr leid, das zu hören.« Carstairs klang allerdings nicht sonderlich betroffen. »Ich habe davon in den Zeitungen gelesen. Einen Mord würde ich in der Tat als ›bedauerlich‹ bezeichnen. Aber ich weiß nicht so recht, inwiefern seine alten Schulunterlagen Ihnen da helfen können. Es ist über zehn Jahre her, dass er von Norwood abgegangen ist.«
»Kannten Sie Shaun Francis, Mr Carstairs?«
»Ich erinnere mich an ihn, ja«, antwortete Carstairs mit offensichtlichem Widerwillen.
»Wenn sich in der Gegenwart kein naheliegendes Motiv finden lässt, hilft es uns bisweilen weiter, wenn wir uns die Vorgeschichte des Opfers ansehen. Und seine Schwester erwähnte einen bestimmten Vorfall, der sich ereignet hat, als Shaun vielleicht in der siebten Klasse war. Erinnern Sie sich daran? Es war zu Beginn des Schuljahrs im Herbst, und ein anderer Schüler dieser Schule war darin verwickelt.«
»Ah. Nun …« Carstairs runzelte die Stirn. »Darüber werden Sie in seinen Schulzeugnissen nichts finden. Sie müssen wissen, dass ich damals noch nicht Direktor war. Ich unterrichtete Physik, und ich war erst zwei Jahre hier.«
»Aber Sie erinnern sich an den Vorfall«, hakte Gemma nach, da er nicht von sich aus fortfuhr.
Carstairs blätterte in den Papieren auf seinem Schreibtisch, während er erkennbar mit sich rang. Dann sagte er mit einem leichten Seufzer: »Sie müssen verstehen, dass Norwood College damals nicht das war, was es heute ist. Wir waren nicht für die hervorragende Qualität unseres Unterrichts bekannt, sondern als Alternative für diejenigen Jungen, die nicht ganz begabt oder fleißig genug für das andere College waren, deren Eltern aber über Geld und gesellschaftlichen Ehrgeiz verfügten.«
Gemma nahm an, dass er Dulwich College meinte, die
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