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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Descosse
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andererseits fühlte sie sich unendlich müde. Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und schloss ironisch:
    »Und wahrscheinlich weiß man auch nicht, wo er wohnt …«
    »Nein. Wie sehen ihn nur in der Kirche.«
    Aber sicher … Dort zelebrierte Bafamal wohl seine Messen. Das war notgedrungen der einzige Ort, den diese Kinder kannten.
    »Wo ist diese Kirche?«
    »Auf dem Friedhof Saint-Roch.«
    »Machst du dich über mich lustig?«
    »Ich schwöre es Ihnen. Ein Mausoleum. Familie Cleyel. Unter der Stele gibt es einen kleinen Saal.«
    »Wann geht er dorthin?«
    »Eigentlich jede Nacht.«
    52
    Die Gruften des Friedhofs Saint-Roch befanden sich im Süden der Île Verte, einen Katzensprung von den besetzten Häusern von Sablons entfernt. Das war jetzt schon das zweite Mal innerhalb von achtundvierzig Stunden, dass Julia in diesem Viertel von Grenoble umherlief. Das erste Mal hatte sie François bei der Befragung des Pitbulls begleitet.
    Heute Abend war sie allein.
    Es war gegen Mitternacht, und das Haupttor war schon seit Langem geschlossen. Im Wärterhäuschen war niemand. Die Wächter drehten wahrscheinlich gerade ihre Runde.
    Julia lief die Mauer entlang, bis sie einen Baum bemerkte, der auf den Gehsteig gepflanzt worden war und dessen Zweige über die Mauer hingen. Sie kletterte schnell hinauf, rutschte dann auf dieser improvisierten Brücke und ließ sich an der anderen Seite zu Boden fallen.
    Sofort wurde die Stille intensiver, lauter und dichter, als würden die Gräber jedes Geräusch in sich aufsaugen. Überall, so weit das Auge reichte, funkelten die Oberflächen der schwarzen Marmorstelen in der klaren Nacht.
    Keine Menschenseele weit und breit.
    Kein Aufseher in Sicht.
    Beruhigt versuchte Julia, sich zu orientieren. »Familie Cleyel« hatte die Gothicfrau gesagt. Dann hatte sie noch hinzugefügt: Feld V, Reihe 12, Grabnummer 107. Gar nicht so einfach. Alles sah gleich aus, und der Friedhof zog sich endlos hin.
    Etwa zwanzig Meter weiter sah sie ein Schild. Das war der Beginn der Schnitzeljagd. Sie ging hin und versuchte, die Beklemmung, die sie erfasst hatte, zu überwinden. Julia mochte diesen Ort überhaupt nicht. Eine irrationale, geradezu absurde Angst hatte sie überwältigt. Die Toten waren nicht das Problem. Sie verwesten in ihren verplombten Särgen. Außer in Zombiefilmen hatte noch nie jemand eine Leiche wiederauferstehen sehen.
    Das Schild wies sie darauf hin, dass sie sich in Feld III befand. Nach rechts oder nach links? Sie entschied sich für rechts. Jetzt musste sie bis zur nächsten Kreuzung fünfhundert Meter zurücklegen. Beiderseits der Allee standen Granitblöcke, Steinkreuze, in verrostete Rahmen eingesperrte Fotos der Verstorbenen. Und immer diese erdrückende Stille.
    Sie zog die Schultern hoch und ging schneller. Feld IV . Die Spannung wich ein wenig von ihr. Sie hatte die richtige Wahl getroffen.
    Sie ging geradeaus weiter, von einem Feld zum anderen, vorbei an Gräbern. Die Stadt der Toten. Friedlich und beängstigend. Die Stimmung war so ansteckend, dass die junge Frau plötzlich das Gefühl hatte, ihr eigenes Ende sei nahe. Nur der dampfende Atem aus ihrem Mund verband sie noch mit der Wirklichkeit. Ein zarter flüchtiger Nebel, der sie daran erinnerte, dass sie noch am Leben war.
    Feld V, endlich. Julia ging bis zur Reihe 12. Diese Ecke des Friedhofs war von Opulenz geprägt. Die gepachteten Gräber waren erstaunlich groß, und es standen echte Bauwerke darauf. Im Dämmerlicht konnte man meinen, man befinde sich in einer Schlafstadt, in der sich Häuschen an Häuschen reihte.
    Die Polizeibeamtin schaltete ihre Taschenlampe ein. Das erste Gebäude hatte keine Nummer. Es handelte sich um die Imitation eines antiken Tempels, dessen Dach von einem Paar ionischer Säulen gehalten wurde. Ein Name war in den Marmor gehauen: Sauvat. Und darunter stand eine Grabinschrift: »Du hast uns nicht verlassen, du bist uns vorausgegangen«.
    Sie ging zum nächsten. Immer noch keine Grabnummer. Der Name stimmte auch nicht. Sie inspizierte die Mausoleen eines nach dem anderen: die Figur eines liegenden Toten unter einem Baldachin in Form einer Kapelle mit Lichtgaden; ein gigantischer, mit Friesen und Basreliefs verzierter Monolith; eine Miniaturreproduktion des Petersdoms in Rom …
    Immer noch nichts.
    Nur eines wurde deutlich: Die Bewohner dieses VIP -Karrees liebten das Unverhältnismäßige. Ein letztes Aufbegehren des Stolzes im Angesicht der schwindelerregenden Leere. Nachdem sie zehn

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