Wer Boeses saet
noch schlimmer machte. Sie streckte sich, gähnte, bis sie sich fast den Kiefer ausrenkte, und sah dann auf ihre Uhr – neun Uhr dreißig. Um Himmels willen! Sie hatte verschlafen.
Sofort schaltete sich ihr Verstand ein. Grenoble. Die Krypta. Bafamal … Der Pseudovampir hatte sie zu Rémi Cazenove geführt, dem reichen Schnösel, dem Pierre nach der Schule Nachhilfe gab.
Als sie vor fünf Stunden den Friedhof verlassen hatte, wollte sie den jungen Mann festnehmen, sobald er aus den Federn kroch. Über die Auskunft hatte sie seine Adresse ausfindig gemacht und dann vor seinem Haus geparkt und die gesetzlich vorgeschriebene Uhrzeit abgewartet. Aber dann war sie eingeschlafen.
Julia stieg aus dem 306er aus. Eine Tasse Kaffee war jetzt das Wichtigste. Sie entdeckte eine Brasserie auf der anderen Straßenseite. Sie lehnte sich an die Theke, bestellte einen Espresso und schnappte sich die lokale Zeitung. Der Mord war nicht mehr auf der Titelseite. Man hatte ihn nach hinten auf Seite sieben verschoben, geschrumpft auf ein paar wenige Zeilen, in denen die neuesten Erkenntnisse der Ermittlung zusammengefasst wurden. Laut Aussage der Staatsanwaltschaft Grenoble gab es keine. Außerdem schien man gegenwärtig noch nicht erkannt zu haben, dass es einen Zusammenhang mit dem Verbrechen in Roussillon und dem in Bagnolet gab.
Julia faltete die Zeitung zusammen und kippte den Espresso in einem Zug hinunter. Hénons Anweisungen waren befolgt worden, das war für sie nicht schlecht.
Sie verließ die Brasserie und überquerte die Straße. Es war ein prächtiges Wohnhaus, von denen es in der Innenstadt sehr viele gab. Der Concierge wischte mit viel Wasser die Halle und sah sie nicht einmal hereinkommen.
Zweiter Stock. Eine elegante Frau öffnete ihr. Mit ihrer tadellosen Frisur und ihrem Haute-Couture-Kleid hätte Julia sich gut vorstellen können, wie sie für eine Promizeitschrift posierte. Sie war schon über vierzig, hatte aber noch immer die Figur eines Topmodels.
Die Ermittlungsbeamtin zeigte ihren Ausweis vor.
»Madame Françoise Cazenove?«
»Ja …«
»Leutnant Drouot. Kripo. Ist Ihr Sohn zu Hause?«
»Nein, was ist denn los?«
Das fing ja gut an. Julia fragte:
»Darf ich reinkommen?«
»Bitte schön.«
Wie erwartet, lebte Rémi im Überfluss. Hohe Decken, Stuck, zeitgenössische Möbel und persische Teppiche. Eine schwarze Hausangestellte wischte Staub in einer riesigen Bibliothek, in der überall Bronzefigürchen herumstanden. Die Hausherrin entließ sie mit einer knappen Handbewegung.
Die beiden Frauen waren allein.
»Wo ist Rémi?«, fragte Julia in harschem Ton.
»Ich weiß nicht.«
»Vielleicht hat Ihr Mann eine Idee?«
»Ich lebe allein mit meinem Sohn. Aber … können Sie mir sagen, was Sie von ihm wollen?«
Julia hatte nicht die Absicht, es ihr zu erklären.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, improvisierte sie. »Vor dem Gymnasium hat es einen Unfall gegeben. Wir bräuchten lediglich seine Zeugenaussage.«
Bei der Wölfin schrillten sofort alle Alarmglocken.
»Einen Unfall? Mein Gott! Es ist ihm doch hoffentlich nichts passiert?«
»Nein. Er selbst war nicht darin verwickelt.«
Erleichterung.
»Dieses Motorrad macht mich noch wahnsinnig.«
Julia sprang sofort darauf an.
»Rémi hat ein Motorrad?«
»Eine Harley Davidson.«
Noch ein Puzzlestückchen. Die Reifenspuren vor der Verbrennungsfabrik gehörten zu einer schweren Maschine. Mit den Stiefeln, deren Spuren man gefunden hatte, der Lederjacke und dem Wappen war die Ausstattung eines Hell’s Angels komplett.
»Um wie viel Uhr ist er gegangen?«
»Ich habe ihn seit gestern Morgen nicht mehr gesehen. Aber am Spätnachmittag ist er wahrscheinlich hier gewesen. Der Audi steht nicht mehr in der Garage.«
Ein Alarmzeichen.
»Kommt es oft vor, dass er anderswo schläft?«
»Regelmäßig. Vor allem, wenn er das Auto nimmt.«
»Haben Sie eine Idee, wo er sich aufhalten könnte?«
»Überhaupt keine. Aber ich kann ihn anrufen, wenn Sie das möchten.«
Bloß das nicht! Julia kramte einen Kugelschreiber aus der Tasche.
»Geben Sie mir seine Handynummer. Wir werden ihn anrufen.«
Françoise Cazenove gehorchte. Die Polizeibeamtin schrieb sich die Nummer auf und fragte beiläufig:
»Kann ich sein Zimmer sehen?«
»Aus welchem Grund?«
Wieder musste sie sich eine Lüge ausdenken, und zwar schnell, und diese selbstsicher vorbringen.
»Ich muss sichergehen, dass er nicht hier ist.«
»Glauben Sie mir etwa nicht?«
»Das ist Vorschrift.
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