Wer Boeses saet
keiner besonders aufgefallen?«
»Keiner. Nur eines kann ich Ihnen sagen: So ganz taufrisch waren die alle nicht mehr. Ich hab sogar gedacht, dass ich vielleicht auch eine Chance hätte, wenn ich’s versuchen würde …«
Mit einem Glucksen sah er Julia an. Sie starrte böse zurück. Bevor sie ihn zum Teufel jagte, holte François die ausgedruckten Seiten heraus.
»Könnten Sie sich das bitte mal anschauen?«
Der Dicke schob die Lippen vor und rückte sich die Brille zurecht. Er sah sich die Fotos eines nach dem anderen an, ohne auch nur mit den Brauen zu zucken. Dann fiel sein Urteilsspruch.
»Nein. Beim besten Willen nicht.«
Sie saßen fest. Nicht einmal die Fotos halfen diesem Hornochsen auf die Sprünge. Umso schwieriger die Aufgabe, ihn dazu zu bringen, ihnen etwas über einen Kerl zu erzählen, von dem sie kein Foto hatten.
Marchand bedankte sich der Form halber, machte Julia ein Zeichen und ging Richtung Ausgang. Seine Befürchtungen hatten konkrete Gestalt angenommen. Diese Spur würde sie nirgendwohin bringen.
Er wollte gerade die Tür aufstoßen, als eine Dame unter den Gästen seine Aufmerksamkeit weckte. Eine kleine Oma mit Blümchenhut und grauem Damenblazer, die an ihrem Kräutertee nippte und auf die Straße sah. Sie unterschied sich von den anderen Gästen, hielt sich kerzengerade, war hellwach und achtete auf jede Bewegung. Offensichtlich war sie Stammgast hier.
Der Polizist setzte alles auf eine Karte.
»Guten Tag, Madame. Entschuldigen Sie die Störung. Wir sind von der Polizei.«
Schon kam Leben in ihre großen Augen.
»Ach ja?«
»Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für uns?«
»Dann schießen Sie mal los, junger Mann. Ich habe alle Zeit der Welt.«
François nahm ihr gegenüber Platz, während Julia sich einen Stuhl heranzog. Auf dem Tisch bemerkte er ein Kreuzworträtsel.
»Ermitteln Sie in einem Fall?«
Die alte Dame war ein klein wenig aufgeregt, als sie die Frage stellte. Marchand antwortete lächelnd:
»Zunächst würde ich gerne wissen, ob Sie oft hierherkommen.«
»Jeden Tag.«
»Seit wann?«
»Seit fünf Jahren. Früher, als mein Mann noch lebte, machten wir Ausflüge mit dem Auto. Das war unser liebster Zeitvertreib. Aber ich habe keinen Führerschein, und Claude lebt nicht mehr. Also habe ich mich hier niedergelassen …«
Sie beendete den Satz mit einem kleinen spitzen Lachen. Hinter der fröhlichen Fassade konnte man eine abgrundtiefe Einsamkeit erahnen.
François versetzte es einen kleinen Stich, aber er ging darüber hinweg und zeigte ihr das Foto von Lucie.
»Erinnern Sie sich an diese junge Frau?«
Sie holte eine Brille aus einem schwarzen Lederetui und nahm das Foto in die Hand. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
»Sie ist fünf- oder sechsmal hier gewesen. Das letzte Mal letzten Sonntag, danach nicht mehr.«
Der Polizist zeigte ihr die Fotos aus dem Internet.
»Sagen diese Gesichter Ihnen irgendetwas?«
Sie nahm die Ausdrucke in die Hand, sah sie sich nacheinander genau an und sagte dann in einem pikierten Ton:
»Diese Herren leisteten der jungen Dame Gesellschaft. Sie kamen immer getrennt und gingen dann gemeinsam fort. Ich bin nicht ganz von vorgestern, wissen Sie. Ich weiß sehr wohl, was die vorhatten.«
»Erkennen Sie alle wieder?«
»Nicht alle, nein. Den da, den habe ich nie gesehen.«
Die Sache kam in Schwung. Sie hatte auf Léo gedeutet, den Verdächtigen Nummer eins. Der, mit dem Lucie sich ein paar Stunden vor dem Mord verabredet hatte.
»Sehr gut. Jetzt muss ich Sie noch einmal ganz besonders um Ihre Aufmerksamkeit bitten.«
Sie rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum, ohne Marchand aus den Augen zu lassen. Er sprach langsam, betonte jedes Wort.
»Es ist möglich, dass noch ein anderer Mann gekommen ist. Und zwar genau am Sonntag. Einer, von dem wir kein Foto haben.«
»Nein. Daran würde ich mich erinnern.«
»Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher.«
Sackgasse. Es kam, wie François befürchtet hatte. Selbst wenn der Schlächter das Internet benutzt hatte, was immer wahrscheinlicher wurde, so hatte er sich doch nicht in Begleitung von Lucie gezeigt. Er war zu schlau, um so eine Dummheit zu begehen. Er sah zu Julia hinüber und wusste sofort, dass sie seine Ansicht teilte. Sie wirkte verschlossen, diese Niederlage war schwer zu akzeptieren.
Der Kommissar stand auf und beendete damit das Gespräch. Die alte Dame war offenbar enttäuscht.
»Ist das alles?«
»Ich
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