Wer Boeses saet
Transsexueller?«
An ihrem Tonfall merkte François, dass die Schlussfolgerung die junge Frau verunsichert hatte.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Wenn man den Zeugenaussagen vertraut, sieht es nicht danach aus.«
Wie sollte er ihr erklären, was er meinte? Der Profiler war sich noch über gar nichts sicher, und der Prozess bis hin zu einer irreversiblen Totaloperation war lang und komplex. Es gab verschiedene Stadien, manche Individuen durchliefen nicht alle. Er beschloss, dieser Frage auszuweichen.
»Fürs Erste bin ich nur von einer Sache überzeugt: Es handelt sich um einen Mann, der massive Identitätsprobleme hat. Er hat dem Opfer das Gesicht abgenommen. Das Gesicht einer Frau. Das ist ja nun keine harmlose Sache.«
»Und was schließen Sie daraus?«
»Diese Tat lässt mich an das ›falsche Selbst‹ denken, das bei den meisten Gewalttaten eine Rolle spielt.«
»Was meinen Sie damit?«
»Grob gesagt bezeichnet man damit aus psychoanalytischer Sicht die Gesamtheit der psychischen Wesensanlagen, und zwar weit über das hinaus, was eine Person selbst von sich wahrnehmen kann. Eine bewusste wie unbewusste Ganzheit, die manche mit der Seele verglichen haben … Von diesem Begriff ausgehend, hat man das wahre vom falschen Selbst unterschieden. Ersteres gestattet es dem Subjekt, sich selbst so darzustellen und so zu leben, wie es wirklich ist. Letzteres dagegen bezeichnet eine verfälschte Darstellung, die geschaffen wurde, um auf eine Forderung von außen zu reagieren. Das Subjekt spielt eine Rolle, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es hat sich eine Persönlichkeit ›geschaffen‹.«
François unterbrach sich und ließ Julie Zeit, die vielen Informationen zu verdauen. Dann fuhr er fort:
»Viele ›normale‹ Menschen entwickeln so eine psychische Organisation. Sie macht es ihnen oft überhaupt erst möglich, in der Gesellschaft zu funktionieren. Aber wenn der Graben zwischen der Selbstdarstellung und der Realität mit der Zeit zu groß wird, können diese Personen sich am Ende selbst zerstören.«
»Oder andere …«
»Der andere ist in unserem Fall nicht wichtig. Er ist ein Objekt. Seine Wünsche, sein Leben sind völlig wertlos. Für den Perversen zählt nur die Befriedigung, die er aus ihm zieht. Er hat Lucies Gesicht gestohlen, um sich ihre Identität anzueignen. Er phantasiert sich wahrscheinlich die Macht herbei, es an die Stelle des eigenen Gesichts zu setzen, das er als falsch empfindet.«
Julia rutschte auf dem Sitz herum. Man hörte ihren Anorak knistern. Sie ergriff das Wort und fasste seine Analyse in eigenen Worten zusammen.
»Im Klartext: Unser Killer weiß nicht, wo’s ihm wehtut. Er spielt eine Rolle, und zwar schon lange, aber im Grunde hat er das Gefühl, ein anderer zu sein. Die Seele eines jungen Mädchens im Körper eines Lastwagenfahrers. Auf die Dauer hat diese Diskrepanz ihm Knoten ins Hirn gemacht. Jetzt schreitet er zur Tat, entführt Lucie und stiehlt ihr Gesicht. Dann benutzt er seine Trophäe als Maske, mit deren Hilfe er sich als Frau fühlen kann.«
»Ein bisschen arg verkürzt das Ganze, aber im Grunde nicht falsch. Eine latente, verdrängte Weiblichkeit frisst ihn von innen auf. Wahrscheinlich schon seit seiner Kindheit. Aus unterschiedlichen Gründen hat er ihr keinen Ausdruck verleihen können. Die Spannung ist gestiegen und der Kochtopf explodiert.«
Julia wurde nachdenklich. François überließ sie ihren Gedanken und stellte eigene Überlegungen an. Seine Analyse war nicht hundertprozentig richtig, aber allein die Tatsache, dass er sie ausgesprochen hatte, hatte ihm schon geholfen, ein bisschen klarer zu sehen. Von Anfang an, schon als Héron ihm den Fall zum ersten Mal geschildert hatte, hatte dieser Diebstahl des Gesichts ihn beschäftigt. Ein barbarischer Akt, der aber auch etwas Feinsinniges hatte und eine bestimmte Sensibilität verriet. Er hatte sich intensiv mit der Identitätsfrage beschäftigt, ohne sie mit einer bestimmten Pathologie in Verbindung zu bringen. Jetzt spürte er, dass darin der Schlüssel zu dem Ganzen lag: In der grundlegenden Frage, mit der sich der Killer herumschlug – war er nun ein Mann oder eine Frau oder beides?
Sie konnten den Fluss sehen. Eine lange platanengesäumte Straße folgte seinem Lauf. Eine weitere lief im geraden Winkel auf eine Reihe von Mietshäusern zu.
»Wo muss ich hinfahren?«
»Fahren Sie geradeaus. Wir sind gleich da.«
Im Auto war ein scharfes Klacken zu hören. Julia hatte ihre Waffe herausgeholt und
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