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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Descosse
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Ich verbringe nicht meine Zeit damit, ihn zu bespitzeln.«
    »Aber du scheinst oft hier zu sein. Es hätte dir ja was auffallen können.«
    »Ich habe seinen Freund erst einmal gesehen. Wir haben zehn Minuten miteinander geredet, dann hab ich die Kurve gekratzt.«
    »Du bist ja nicht gerade sehr ausdauernd.«
    »Jetzt mal ehrlich, das Ganze war voll schräg. Haben Sie schon mal versucht, mit einem Autisten einen kleinen Plausch zu halten?«
    »Nein. Nie. Was hat er denn gemacht?«
    »Er ist wie ein Idiot dagesessen und hat so getan, als würde er Bier trinken.«
    »Ist Cazenove nicht gekommen?«
    »Rémi ist ein aufgeblasenes Arschloch. Der denkt nur an sich.«
    François bekam so allmählich eine Vorstellung von ihm. Ein verwöhntes Kind, schön noch dazu, der sich für den König der Welt hielt. Karine dagegen hatte ein Herz. Und das dürfte man ihr schon recht oft gebrochen haben.
    »Zum Glück war Marcel da«, fügte sie hinzu. »Der hat ihn wieder ein bisschen aufgebaut.«
    Ein neuer Bauer auf dem Schachbrett. Und zwar so unerwartet, dass der Profiler ganz elektrisiert war.
    »Wer ist Marcel?«
    »Ein Pfarrer.«
    »Vom Saint-Joseph-Gymnasium?«
    Karine musste an sich halten, um nicht laut loszuprusten.
    »Nein, das ist nicht gerade sein Ding.«
    »Also, wo gehört der hin?«
    »Wissen wir nicht so genau. Der ist unabhängig. Lange Haare, große Maschine, Bikerlook. Der taucht irgendwie überall auf. In Bars, Diskos, besetzten Häusern … Überall da, wo sich die verlorenen Seelen herumtreiben.«
    Sie klang jetzt ziemlich ironisch, als passe es ihr nicht in den Kram, wie dieser Geistliche, der sich außerhalb der Norm bewegte, sein Priesteramt ausfüllte.
    Julia schaltete sich ein.
    »Ein Rocker-Priester?«
    »Ja … kann man so sagen.«
    »Wie alt?«
    »Fünfzig, fünfundfünfzig …«
    »Hast du schon mit ihm gesprochen?«
    »Nein. Mit Pfaffen hab ich’s nicht so.«
    François auch nicht. Aber hier hatten sie es nicht mit dem klassischen Schema zu tun. Diese Art von Pfarrer hatte vielleicht auch ihre bösen Seiten. Nur bis zu welchem Punkt?
    »Weißt du, wo er zu finden ist?«
    »Nein. Er ist dauernd unterwegs.«
    Egal. Er würde ihn schon finden. Marchand ließ Karine ihrer Wege ziehen und schlug den Mantelkragen hoch.
    Ein Pater in Lederjacke.
    Die Wege des Herrn waren wirklich unergründlich.
    26
    Der Pfarrer wohnte in einem Problemviertel.
    In La Villeneuve im Süden von Grenoble, einem großen Komplex des Sozialen Wohnungsbaus, in dem viele Außenseiter aufeinanderstießen.
    Julia hatte die Adresse über einen Anruf bei der Diözese herausgefunden. Jeder dort kannte Pater Marcel, seine Ideen, seine Methoden, sein Auftreten. Dass er sich kleidete wie ein Biker ließ niemanden völlig gleichgültig. Er gehörte zur Gemeinde der Dreifaltigkeitskirche, benahm sich aber wie ein freies Elektron. Einmal die Woche hielt er die Messe ab, ansonsten sah man ihn nie.
    Die Gegend war nicht sehr idyllisch. Hohe Gebäude, halb Wohnturm, halb Wohnblock, rund um einen im Schatten liegenden Park erbaut. Wie man an den Fassaden erkennen konnte, stammten die Häuser aus den Siebzigerjahren. Das typische Pilotprojekt, das rund um einen »Lebensort« sämtliche notwendigen Annehmlichkeiten gruppierte: Sportanlagen, Plätze kultureller Begegnung, Verwaltungsgebäude, Schulen und jede Art von Kommerz. Ein zubetoniertes Glück in einem praktischen und billigen Rahmen.
    François wusste nur zu gut, was für ein Schwindel das Ganze war. Das Département Seine-Saint-Denis war voll von solchen Bauprojekten. Als dann die Euphorie vorbei war, ließ die Erfüllung des Traumes auf sich warten. Die gemeinschaftlich genutzten Bereiche verfielen als Erstes, und der Stadtverwaltung mangelte es an Geldern, sie wieder herrichten zu lassen. Die Appartements verloren bald an Wert und zogen immer mehr mittellose Familien an. Das ethnische Durcheinander, das auf diesem elenden Humus gedieh, machte die Sache nicht einfacher. Hier, wo die Herzen stumm waren und man seine Mitmenschen ablehnte, gediehen Frust, Hass und Angst. Am Ende übernahmen die Jugendlichen die Herrschaft. Drogen, Schutzgelderpressungen, Einbrüche, Sachbeschädigungen: Sie herrschten über dieses gesetzlose Territorium, indem sie Terror walten ließen. Wenn es dunkel wurde, verbarrikadierten sich alle zu Hause.
    Kurzer Blick auf das Navi. Die Avenue La Bruyère war nicht sehr weit weg. Pater Marcel wohnte in einer Einzimmerwohnung in einem Ensemble, das den Namen ›Résidence

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