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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Descosse
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Möglichkeiten offen: Sie können mich verdächtigen, den jungen Pierre Jacquet umgebracht zu haben, und in Polizeigewahrsam nehmen, ansonsten verlassen Sie bitte augenblicklich diesen Ort.«
    François verschlug es die Sprache. Der schlaue Fuchs hatte im Priesterseminar wohl Jurakurse belegt oder Prozessakten studiert.
    Plötzlich bekam der Kommissar große Lust, ihm Handschellen anzulegen. Julia hatte das gespürt und ging dazwischen.
    »Es geht hier nicht um Ihr Gymnasium, Pater. Wir versuchen nur herauszufinden, was Pierre für ein Mensch gewesen ist. Diese Befragung wird nicht schriftlich protokolliert werden, das bleibt alles unter uns.«
    Der Oberaufseher maß sie mit dem Blick. Er schien ihre Gegenwart erst jetzt zu bemerken. Sie machte ihm schöne Augen und fügte hinzu:
    »Vertrauen Sie mir. Sie wollen vor allem vermeiden, dass die Öffentlichkeit davon Wind bekommt. Das wird nicht der Fall sein, ich schwöre es Ihnen.«
    Der Geistliche verzog das Gesicht zu einem säuerlichen Lächeln. Seine Hände verschwanden in den Ärmeln seiner Soutane, als zöge er sich in sich selbst zurück.
    »Schwören Sie nicht, meine Tochter. Das Kind ist ohnehin schon in den Brunnen gefallen. Der Portier hat Sie gesehen und dürfte sich bereits so allerlei Fragen stellen.«
    »Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Ich werde mit ihm reden. Jetzt bitte ich Sie: Beantworten Sie unsere Fragen, und schon sind wir wieder verschwunden.«
    Er senkte den Kopf, als bitte er den Herrgott höchstpersönlich um einen Rat. Dann flüsterte er fast:
    »Was möchten Sie wissen?«
    Julia sah schnell zu François hinüber. Mit einem Blinzeln gab er grünes Licht.
    »Pierre hatte gute Noten, nicht wahr?«
    »Exzellente.«
    »Und sein Glaube war groß.«
    »Immens.«
    »Ein Musterschüler also?«
    Pater Édouard starrte sie an.
    »Worauf möchten Sie hinaus?«
    »Ich glaube nicht an den vollkommenen Menschen. Jeder hat seine Schattenseite.«
    »Der Herr hilft uns, sie zu besiegen.«
    »Was war Ihrer Meinung nach Pierres Schattenseite?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Denken Sie nach. Vielleicht gibt es irgendwelche Kleinigkeiten, bei denen man hellhörig werden könnte. Kleine Probleme mit der Disziplin? Unentschuldigtes Fehlen im Unterricht? Oder schlechten Umgang?«
    »Nichts von alledem. Im Gegenteil. Jacquet war nicht nur vorbildlich, er kümmerte sich außerdem noch um die anderen.«
    Marchand sprang sofort darauf an.
    »Können Sie uns das näher erläutern?«
    »Wir haben innerhalb jeder Klasse ein System zur gegenseitigen Unterstützung. Die Starken nehmen die Schwachen unter ihre Fittiche.«
    »Jacquet half einem anderen Schüler in Russisch. Und er hatte nicht gerade den Einfachsten abgekriegt.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Rémi Cazenove. Ein Tagedieb, arrogant, unbeherrschbar und schlecht erzogen. Eine Plage. Wenn es nur von mir abhinge, wäre er schon lange von der Schule geflogen. Aber seine Eltern schützen ihn. Und wenn man sich ansieht, welche Summen sie der Schule spenden, wird einem klar, dass der Verwaltungsrat ihnen nichts abschlagen kann.«
    Ein Faulpelz. Eine unerwartete Gelegenheit, dem Druck zu entgehen. Pierre hatte sie nicht einmal suchen müssen, sie wurde ihm auf dem Silbertablett präsentiert.
    »Haben Sie seine Adresse?«
    »Warum? Denken Sie etwa, dieser kleine Idiot hätte Jacquet etwas antun können?«
    »Ich möchte nicht …«
    »Sie sind auf dem Holzweg. Wenn man seine Mitmenschen umbringen will, braucht man Grips. Und Cazenove hat keinen.«
    François seufzte und versuchte, Ruhe zu bewahren.
    »Die Adresse, Pater.«
    »Sie vergeuden Ihre Zeit. Er wird ohnehin nicht zu Hause sein.«
    »Ach nein?«
    Der Geistliche sah auf seine Uhr.
    »Es ist neunzehn Uhr fünfzehn. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie ihn an der Bar finden, ist groß.«
    »Welche Bar?«
    »Die Balto-Bar. Rue Dode.«
    »Wie kommt man dorthin?«
    »Die Zweite links, wenn man den Boulevard Gambetta runtergeht. Sie werden sie leicht finden. Sie hat … Charakter.«
    25
    Die Fassade war vergammelt.
    Schmutzige Fensterscheiben, eine schmale, mit Aufklebern übersäte Glastür, ein grün-weißes Barschild, das einem Neonlicht vor die Füße kotzte. Von draußen erinnerte die Bar an ein städtisches Wettbüro. Aber eines aus einem Immigrantenviertel. Obwohl es im letzten Winkel einer kleinen Gasse lag, wirkte es störend in diesem bürgerlichen Umfeld.
    Als François hineinging, rechnete er mit den üblichen Trinkern, die sich normalerweise zu solchen Orten

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