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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Descosse
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psychischen Profil die noch fehlende Farbe geben.
    »Hat sie ihn hierhergebracht?«
    »Oft. Anfangs habe ich mich nicht eingemischt. Später habe ich ihn rausgeworfen.«
    »Ihr Haus liegt recht weit außerhalb. Wie ist er hierhergekommen?«
    »Mit dem Auto. Na ja, so einer Kiste mit Rädern dran.«
    Bingo.
    »Welche Marke?«
    »Volkswagen, Golf … Eines der ersten Modelle mit aufklappbarem Verdeck. Die Karosserie war völlig verbeult.«
    »Farbe?«
    »Grau, glaube ich. Das Einzige, was mich gewundert hat, war die Anlage. Eine echtes Wahnsinnsteil. Wenn er sie besuchte, bekam das ganze Viertel das mit.«
    Zum ersten Mal lächelte Julia.
    Hier hatte sie die Unebenheit gefunden, die sie brauchte, um die Wand noch ein Stück weiter hochzuklettern.
    35
    Die Clinique du Lac war ein schönes großbürgerliches Gebäude aus den Dreißigerjahren. Ein massiver, dreigeschossiger Klotz im reinsten Riviera-Stil, dessen weiße Fassade an eine Hochzeitstorte erinnerte.
    Sie lag in einem fünf Hektar großen Park in der Nähe von Saint-Cloud und war ursprünglich von Freud-Schülern zu dem Zweck gegründet worden, an Depression erkrankte Patienten zu behandeln. François hatte schon oft verzweifelte Fälle hierhergeschickt, die Therapieresistenten, die man auch nach noch so vielen Sitzungen nicht von ihrem Leiden befreien konnte.
    Er ging durch die Eingangspforte und bog auf die Allee ein. Frisch geschnittener Rasen, hundertjährige Bäume, Unterholz und kleine Wäldchen. Eine dünne Schicht Raureif lag wie eine zarte Decke aus Puderzucker auf dieser Vegetation. Der Ort erinnerte an eine Poststation oder ein Schloss, er war ein sehr privates und sehr teures Paradies, das den happy few vorbehalten war.
    François blieb auf dem mittleren Weg und betrat das Gebäude. Drinnen empfing ihn eine sanfte Wärme. Sie rührte von der Heizung, aber die allgemeine Atmosphäre trug auch dazu bei. Alles war cremefarben, es gab einen roten Samtteppich und elektrische Kerzenleuchter, die an den antiquierten Prunk der Vorkriegszeit erinnerten.
    Der Polizist steuerte den Aufzug an. In diesem schallgedämpften Refugium kam es ihm so vor, als sei die Zeit in sich zusammengeschnurrt.
    Er sah sich selbst zehn Jahre zuvor, als junger Psychoanalytiker voller Ideale, der gegen die eingebildeten Monster anrannte, von denen seine Patienten gequält wurden. Der Anblick seines Spiegelbildes holte ihn in die Gegenwart zurück. Er war nur mehr ein gebrochener Mann, der sich selbst hinterherrannte. Eine leere Hülle, deren Seele entwichen war.
    Die Tür öffnete sich auf einen gepolsterten Gang. Eine Reihe von Bildern hing an der Wand, gefangen in mit Feingold verzierten Rahmen. Halbmondförmige Wandleuchten verbreiteten ein sanftes Licht.
    François trat ein, ohne anzuklopfen. Doktor Paul Giraud, Chefarzt und Großaktionär der Clinique du Lac, saß hinter einem Kirschholzschreibtisch und erwartete ihn.
    Er war ein imposanter und müde wirkender Mann in den Vierzigern, mit der blassen Hautfarbe derer, die nie in die Sonne gehen. Er trug nicht den traditionellen Kittel, sondern war leger gekleidet: Jeans, Hemd, Weste – alles von Armani. Der neue Psychiaterlook, dachte François. Weniger streng, beruhigender. Eine kleine Hornbrille gab ihm die intellektuelle Legitimität, die seinen Gesichtszügen fehlte. Denn die waren grob, wie mit der Axt gehauen und von einem Dickicht schwarzer Haare überwuchert. Er hätte problemlos in einem historischen Filmepos den Anführer der Barbaren spielen können.
    »Du hast dich nicht verändert.«
    »Du dich auch nicht«, antwortete François.
    Das war von beiden gelogen. Seit ihrer Zeit als Ärzte im Praktikum in Hôpital Saint-Anne war viel Wasser den Fluss hinuntergeflossen, und ihre Gesichter hatten Falten bekommen.
    Sie begrüßten einander herzlich. François setzte sich Paul gegenüber in einen rehbraunen Ledersessel. Mit dem dicken Teppich und den antiken Stilmöbeln erinnerte das Zimmer an einen englischen Salon. Nirgendwo gab es auch nur ein Stück Papier, und einen Computer schon gar nicht.
    »Ein Bulle«, sagte Giraud erstaunt. »Ich fasse es nicht.«
    »Ich auch nicht, glaub mir.«
    »Was ist denn in dich gefahren?«
    »Kompliziert. Das erkläre ich dir ein anderes Mal.«
    Der Oberarzt der Clinique du Lac hatte begriffen.
    Er lächelte wohlwollend und verschränkte die Arme vor seinem Holzfällertorso.
    »Womit kann ich dir dienen?«
    »Du hast vor zwei Jahren eine anorektische junge Frau behandelt. Justine Crémant.

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