Wer Boeses saet
Erinnerst du dich?«
»An Anorektikerinnen mangelt es hier nicht.«
»Sie ist letzte Nacht in Bangnolet ermordet worden.«
»Scheiße … Und du ermittelst in dem Fall?«
»Teilweise, ja. Ich brauche deine Hilfe, um hier klarzusehen.«
»Was kann ich tun?«
»Erzähle mir von ihr.«
Giraud wirkte verunsichert.
»Ist das ein offizielles Anliegen?«
»Offizieller geht’s nicht.«
»Na dann …«
Der Psychiater griff zum Telefonhörer. Unterdessen driftete François’ Blick zum Fenster ab. Durch eine Schneise in den Bäumen hindurch konnte er das funkelnde Blau eines riesigen Sees erkennen. Die Zeit an diesem Ort schien stehen geblieben zu sein, als wolle sie dem Geist Zeit lassen, sich aufzubauen.
Eine Minute später schwebte eine Brünette wie ein Geist zur Tür herein. Sie legte eine Aktenmappe auf den Schreibtisch, warf Giraud ein Lächeln zu und verschwand. Die beiden Männer sahen einander verschwörerisch an. Keiner gab einen Kommentar ab.
»Justine Crémant«, sagte der Chefarzt und schlug die Akte auf. »Tatsächlich, ich habe sie hier behandelt! Bei ihrer stationären Einweisung in die Klinik war sie vierzehn Jahre alt. Sie kam am sechsten März 2007 und blieb drei Monate hier. Ein Allgemeinmediziner aus Bagnolet hatte sie wegen einer Essstörung eingewiesen.«
François brauchte kein Spezialist zu sein, um zu wissen, dass sich hinter diesem recht harmlos klingenden Ausdruck sehr schwere Krankheiten verbargen: Anorexie und Bulimie waren die bekanntesten Formen, aber es gab auch das Pica-Syndrom, den Meryzismus oder das Binge Eating.
Giraud blätterte schnell die paar Seiten durch, die Justines Aufenthalt in seiner Einrichtung zusammenfassten. Der Profiler wartete geduldig, bis der Exkollege wieder von seiner Lektüre aufsah.
»Sie war sehr abgemagert. Sechsunddreißig Kilo bei einer Größe von einem Meter fünfundsechzig. Niedriger Blutdruck, verschiedene Mangelerscheinungen, beginnender Kalziummangel. Ausbleiben der Regelblutung seit vier Monaten. Wir haben sie gleich zu Beginn an den Tropf gehängt und unter Beobachtung gestellt.«
»Weshalb? Hattest du Zweifel an der Diagnose?«
Giraud lächelte.
»Hast du vergessen, wie das läuft?«
»Ein bisschen schon. Könntest du meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen?«
»Rein medizinisch gesehen, ist die Anorexie ein Appetitmangelsymptom, das man bei vielen organischen oder psychiatrischen Erkrankungen beobachtet. Der Begriff wird benutzt, wie es den Leuten gerade einfällt, meist aber zur Bezeichnung der Anorexia mentalis, die nur eine besondere Form der Anorexie ist. Die wahrscheinlich gefährlichste und komplexeste Krankheit, die ich kenne. Das Krankheitsbild muss auf der Grundlage mehrerer Kriterien abgeklärt werden, und die Essstörungen sind nur eines davon. Sie sind nur das Alarmzeichen. Oder der Baum, hinter dem sich der Wald verbirgt, falls dir das lieber ist. Die Ursache ist psychopathologischer Art. Es handelt sich um eine Sucht oder eine psychotische Störung. Bevor man zu einem abschließenden Urteil gelangt, muss man daher den Geisteszustand des Patienten umfassend analysiert haben.«
François stimmte der Erklärung mit einem Kopfnicken zu. So langsam kamen sie zu dem, was ihn bei seiner Ermittlung interessierte.
»Ich habe die Familie von ihr ferngehalten«, fuhr Giraud fort, »außerdem alles, was ihr auch nur im Entferntesten ihr früheres Leben in Erinnerung hätte rufen können. Als sich nach einer Woche ihr körperlicher Zustand stabilisiert hatte, begannen wir mit den Gesprächen. Ich sah sie zweimal täglich eine Stunde.«
»Und zu welchem Schluss bist du gekommen?«
Giraud vertiefte sich in seine Notizen.
»Nur mal so auf die Schnelle zusammengefasst: komplizierte Beziehung zur Mutter; grundlegende narzisstische Störung; schlechte Integration des Körperbildes, was die Geschlechtsmerkmale anbelangt; zwanghafte Schuldgefühle …«
»Verschon mich mit Details. War es nun Magersucht oder nicht?«
»Geradezu ein Musterfall. Vom nichtrestriktiven Typus, mit Bulimieattacken, gefolgt von Erbrechen und Einnahme von Abführmitteln. Eine Achterbahn …«
»Welche Behandlungsmethode hast du angewandt?«
»Die klassische. Die Behandlung erfolgte auf drei Ebenen, der medikamentösen Behandlung, der Ernährungstherapie und der Psychotherapie.«
»Ich habe ihre Mutter gesprochen. Sie meint, du hättest Wunder vollbracht.«
Der Psychiater legte die Akte auf den Tisch zurück. Er wirkte desillusioniert.
»Das ist ein
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