Wer braucht denn schon Liebe
fischte die Papiertüte mit dem Brot aus seinem Rucksack und drückte sie der überraschten Karen grimmig in die Hand.
»Hier! Aber verschlucken Sie sich nicht daran!« Wirklich erstaunlich, wunderte Karen sich. Emanzipation hin, partnerschaftliches Miteinander her. Offenbar klappten die alten Tricks immer noch am besten. Tränenschimmer und schmollende Unterlippe waren die Zauberwaffen, die selbst den stärksten Mann zur Strecke brachten. Während sie voll Heißhunger die Tüte öffnete, um sich endlich das kostbare Brot einzuverleiben, versuchte sie sich vorzustellen, wie sie demnächst Metzgermeister Brodes mit Schmolllippe und Tränen in den Augen von ihren Umstrukturierungsmaßnahmen überzeugen würde. Oder den Staatssekretär im Finanzministerium davon, dass er mit Leichtigkeit und gutem Willen einen von fünf Abteilungsleitern einsparen konnte.
Karen prustete den Bissen, den sie im Mund hatte, entsetzt heraus, als ihr einfiel, dass sich Kopien von Brodes’ Bilanzen und Geschäftsberichten in einer der Taschen befunden hatten, die zusammen mit dem Mietwagen gestohlen worden waren. Verdammt, es verstieß gegen den Datenschutz, die Unterlagen mit ins Ausland zu nehmen. Und es gab kaum etwas Schlimmeres, als sich dabei erwischen zu lassen. Ihre Nackenmuskeln verkrampften sich, als sie an den Ärger dachte, der deswegen zu Hause auf sie wartete.
Dann erst bemerkte sie den unangenehmen Geschmack im Mund. Es schmeckte wie – Schimmel! Igitt!
Eine dicke grüne Schicht. Karen ekelte sich bei dem Anblick derart, dass sie fast fühlen konnte, wie die Herpesbläschen von ihr Besitz ergriffen.
Mundspülung, Zahnpasta, Desinfektion, schrien ihre fünf Sinne. Doch da es ihr an allem mangelte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit der eigenen Spucke den Mund auszuspülen.
Pfui!
»He! Bleiben Sie stehen, Sie Ferkel! Für diesen verschimmelten Mist sollte ich Ihnen meine intimsten Geheimnisse ausplaudern?!« Mit der Kraft ihrer ganzen Wut holte Karen aus. Nicht nur im Sprint war sie ein Ass gewesen, auch im Prellballwerfen hatte sie immer die höchste Punktzahl geholt.
»Au!« Lorenzo ging in die Knie, als der knüppelharte Brotkanten ihn am Hinterkopf traf. Noch ehe er wieder fest auf seinen Füßen stand, war sie bei ihm.
»Verlogen, verkommen und verlaust! Wie konnte ich auch nur einen einzigen Moment lang glauben, dass Sie es ehrlich mit mir meinen?!« Eine steile Zornesfalte teilte Karens Stirn in zwei Hälften. Ihre Augen leuchteten wie Eiskristalle, und die rote Mähne stand ihr wie der Feuerschweif einer Rachegöttin vom Kopf ab.
»Vertrau niemand anderem als dir selbst«, grollte Lorenzo, während er sich die Beule auf seinem Hinterkopf rieb.
»Was für eine erbärmliche Einstellung. Lernt man die im Knast?«, höhnte Karen.
Obwohl er im Grunde nur ihre eigene Wahrheit ausgesprochen hatte. Ihre Mutter. Kevin – Anfang und Ende einer Kette menschlicher Enttäuschungen. Entmutigt stieß sie die Luft aus. Anscheinend gab es auf der Welt nur zwei Sorten von Menschen. Die, die betrogen, und die, die betrogen wurden.
Mit hängenden Schultern ließ sie den Blick über die grasbedeckten Hänge schweifen. Eine Landschaft, wie geschaffen zum Glücklichsein. Nur sie tappte von einer Katastrophe in die nächste.
Schützend hielt sie sich die Hand vor die Augen, als sie im grellen Sonnenlicht das Autoblech eines Fahrzeugs blinken sah, das zielstrebig näher kam. »Ist das da hinten tatsächlich ein Polizeiwagen? Der kommt mir gerade recht.« Karen lief dem Wagen zwei Schritte entgegen, doch im nächsten Moment fühlte sie sich von zwei kräftigen Händen gepackt und nach hinten zu Boden gerissen.
Ihr Protest ging in einem kehligen Gurgeln unter, das Lorenzos Zunge verursachte, die er ihr ohne Vorwarnung in den Mund gesteckt hatte. Nicht als Liebesbeweis, sondern besitzergreifend und grob, fast brutal. Ein körperlicher Übergriff, den sie erst realisieren musste, um sich zu wehren. Sie stemmte beide Hände fest gegen seine Brust. Doch in seiner Entschlossenheit entwickelte er eine Stärke, gegen die sie nicht ankam.
Karen hörte, wie nebenan auf der Straße der Polizeiwagen langsam an ihnen vorbeirollte. Sie stellte sich vor, wie die Carabinieri zu ihnen herübersahen und dabei leise ihre Gedanken über das Liebespaar austauschten, das es vor lauter Leidenschaft nicht mehr bis ins heimische Bett geschafft hatte. Sie spürte Lorenzos Zunge in ihrem Mund und wusste, dass sie auf gar keinen Fall bereit war,
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