Wer braucht denn schon Liebe
jemand, der selbst nichts mehr zu verlieren hatte.
Nun, wer immer es war – noch ahnte er nicht, dass er mit einer Geisel unterwegs war, versuchte Karen sich selbst zu beruhigen und die Lage kritisch zu analysieren. Mit einem bisschen Glück, das ihr zur Abwechslung einmal ganz guttun würde, bemerkte er sie vielleicht nicht. Dann würde er nach seiner Flucht den Wagen irgendwo im Gelände stehen lassen und einfach verschwinden. Andernfalls lag die Annahme nahe, dass sie sich in absehbarer Zeit in einem dieser unkleidsamen Betongewänder wiederfand, von denen man gelegentlich las. Falls ihr Entführer den Wagen vorher nicht mit zwei Stangen Dynamit oder einer kleinen Handgranate in die Luft sprengte.
Nicht unbedingt rosige Aussichten, die sie erwarteten. Zumal der jüngere Carabiniere, der mit den Karriereambitionen, soeben mit entschlossenem Blick an seine Hüfte griff. Die Geste war Karen aus unzähligen Freitagabendkrimis nur zu geläufig. Instinktiv rollte sie sich zu einer Kugel zusammen und versuchte, den Kopf mit dem freien Arm zu schützen. Im nächsten Moment knallten die ersten Schüsse. Prompt begann der Wagen zu schlingern.
In der Not lernt der Mensch beten, pflegte ihre Oma sie stets vergeblich zu ermahnen. Doch ausnahmsweise war es vielleicht einen Versuch wert.
Lieber Gott, gib, dass sie nicht mich, sondern einen von den Reifen treffen, damit er nicht weiterfahren kann.
Ihr Gebet wurde nicht erhört. Stattdessen ging ihr Entführer zu einem abenteuerlichen Schlingerkurs über, der Karen heftig herumwirbelte.
Während sie sich Halt suchend mit der freien Hand an die Holzbank klammerte, registrierte sie, wie der Abstand zu ihren Verfolgern immer größer und größer wurde, bis diese schließlich aufgaben.
Im nächsten Augenblick prallte sie mit dem Kopf gegen eine Metallstrebe. Erst zuckte ein greller Blitz, dann wurde es schwarz vor ihren Augen.
»Was ist los mit dir? Warum musst du mich immer in solche Schwierigkeiten bringen? Kapierst du nicht, dass jedes Aufsehen Gift für mich ist?!«
Karen blinzelte benommen in das verärgerte Gesicht des Mannes, der sich da über sie beugte.
»Lorenzo?«
»Ja, verdammt noch mal! Wir hätten beide draufgehen können!« Lorenzo sah für seine Verhältnisse ungewöhnlich blass aus. Richtig besorgt.
Vor ihren Augen verschwamm alles. In der Hoffnung, seine Gesichtskonturen auf diese Weise scharf einzustellen, kniff Karen das linke Auge zu, um ihn nur noch mit dem rechten zu mustern.
»Lorenzo?! Ich dachte, du bist abgehauen«, lallte sie und wunderte sich über den pelzigen Geschmack auf ihrer Zunge.
War ich ja auch, wäre die ehrliche Antwort gewesen. Doch Lorenzo würde sich eher die Zunge abbeißen, als es zuzugeben. Nur ein wahrer Ganove machte sich aus dem Staub, um sein eigenes Fell zu retten. Der zukünftige Herrscher des Fürstentums San Marcino ließ seine Freunde nicht im Stich, wenn sie in Gefahr schwebten. Leider war ihm zu spät bewusst geworden, dass Karens Schicksal ihn längst nicht mehr so gleichgültig ließ, wie er es sich wünschte.
Ein Schwall der widersprüchlichsten Gefühle hatte ihn überwältigt, als er sie hinten im Wagen fand.
Bewusstlos.
Gezeichnet von den Spuren des Handgemenges. Angekettet mit Handschellen.
Ihr Anblick berührte ihn tief. Die langen dunklen Wimpern, die Schatten auf ihre Wangen warfen. Der kleine Mund mit der deutlich ausgeprägten Unterlippe, der ihr im Schlaf das Aussehen eines unschuldigen, schmollenden Kindes verlieh. Das kleine, aber feste Kinn, das von einem starken Charakter und festen Willen zeugte.
Von Anfang an hätte er einen großen Bogen um diese Frau machen sollen. Sein Instinkt hatte ihn gewarnt.
Mozart, Krönungsmesse für Solo, Orgel und Orchester in C-Dur, Köchelverzeichnis 317, schoss es Lorenzo plötzlich völlig widersinnig durch den Kopf.
Ein Wink des Schicksals?
Unsinn! Er reagierte körperlich auf sie, zugegeben. Er stellte es sich wundervoll vor zu erkunden, ob die Haut ihres Körpers sich überall so samtig anfühlte wie die ihrer Wange. Der Gedanke, in diesem angeblichen Eisschrank lodernde Glut zu entfachen, reizte ihn – so wie es Wissenschaftler reizte, die letzten Geheimnisse dieser Welt zu erforschen. Aber sie zur Frau zu nehmen? Gemeinsam mit ihr den Thron von San Marcino zu besteigen?
Lächerlich.
Karen und ihn trennten Welten.
Sie, die taffe, selbstständige Bürgerliche. Er, der in der strengen Etikette des europäischen Hochadels eingebundene Prinz. Nicht
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