Wer braucht denn schon Liebe
Laufen streifte Karen sich die Schuhe über. »Du hast doch nicht vor, während der Fahrt auf den Zug aufzuspringen?! Das ist gefährlich!«
»Das Leben ist gefährlich. Wer nichts riskiert, gewinnt auch nichts!«
»Prima Kalenderspruch. Aber wenn du denkst, ich riskier für dich mein Leben, dann hast du dich geschnitten.«
Lorenzo warf ihr einen schnellen Seitenblick zu, während er gleichzeitig versuchte, die Geschwindigkeit des herannahenden Zuges abzuschätzen.
Zwanzig Meter weiter vorn sprang das Signallicht auf Rot um. Der Zug verringerte deutlich seine Geschwindigkeit.
»Duck dich hinter die Büsche. Wir springen auf, wenn der letzte Wagen auf unserer Höhe ist«, befahl Lorenzo.
Fassungslos starrte Karen erst ihn, dann den sich nähernden Zug an. »Du meinst es wirklich ernst?!«
»Ich meine immer ernst, was ich sage. Verdammt noch mal, komm endlich runter!« Verärgert zog er sie am Saum ihres Kleides neben sich ins Gras, sodass das stachlige Buschwerk sie nun vor den Blicken des Lokomotivführers verbarg.
»Können wir uns nicht ganz normal eine Fahrkarte kaufen?«, flüsterte sie verängstigt.
»Schon vergessen, du wirst von der Polizei gesucht …«
»Wir werden gesucht«, korrigierte Karen ihn verwirrt. Mit der Zeit fiel es ihr immer schwerer, Gut von Böse zu unterscheiden.
»Außerdem haben wir kein Geld.» Das war in der Tat ein wirklich überzeugendes Argument.
»Bleib ganz dicht hinter mir. Wenn ich dir sage: spring!, dann springst du, verstanden?!« Eindringlich sah er sie an.
»Ich denke nicht daran!«
Im Schutz des Buschwerks begann Lorenzo dem Zug gebückt entgegenzulaufen. Auch wenn er vor Karen bisher so getan hatte, als gehörte es zu seinen leichtesten Übungen, auf einen fahrenden Zug aufzuspringen – wohl war ihm nicht in seiner Haut.
Mit ohrenbetäubendem Lärm ratterte der Zug an ihm vorbei. Schneller als Lorenzo erwartet hatte. Nur noch wenige Wagen bis zum Ende.
Vier, drei, zwei, eins. Jetzt!
Kraftvoll stieß er sich vom Boden ab. Zu seiner Erleichterung landete er tatsächlich auf dem schmalen Freitritt am hinteren Ende des letzten Waggons. Ein unbändiges Gefühl der Verwegenheit ergriff ihn. Freiheit und Abenteuer – nicht länger bloß ein Traum.
»Lorenzo!« Der Anblick von Karen, die mit wehenden Haaren verzweifelt neben dem Zug herlief, brachte ihn zur Besinnung. Er hielt sich an dem schmalen Eisengeländer fest und machte sich ganz lang.
»Nimm meine Hand!«
Als ob das so einfach wäre!
Karen wusste selbst nicht, weshalb ihre Füße plötzlich das Kommando übernahmen. Die Vorstellung, Lorenzo könnte vor ihren Augen auf dem rollenden Zug entschwinden und sie zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden allein lassen, war ihr unerträglich. Sie wollte ihn nicht verlieren. Nicht jetzt.
Nicht nach diesem wunderbaren, weltvergessenen, Grenzen überwindenden Sex.
Um ein Haar hätte sie seine Hand auch tatsächlich zu fassen bekommen. Doch ein Schotterstein, der durch den starken Luftzug vom Boden aufgewirbelt wurde, traf sie am Bein. Sofort schossen ihr Tränen in die Augen. Doch tapfer den Schmerz verbeißend, humpelte sie weiter.
»Ich schaffe es nicht!«, rief sie verzweifelt.
»Du musst springen! Ich fang dich!«
»Aber ich habe Angst!«
»Vertrau mir einfach!«
Vertrau mir einfach.
Lorenzo lächelte ihr vom hinteren Ende des Zuges zu. Karen fing seinen Blick auf, mit dem er ihr Mut zu machen versuchte. Und, o Wunder, es wirkte. Sie lief jetzt in etwa auf gleicher Höhe mit dem hinteren Freitritt.
»Jetzt!«, rief Lorenzo ihr zu.
Und Karen sprang. Sie landete auf dem Eisenrost, doch gerade als sie erleichtert aufatmen wollte, rutschte sie ab und verlor das Gleichgewicht. Wenn Lorenzo sie nicht gehalten hätte, wäre sie zurück auf die Bahngleise gestürzt.
»Ich muss völlig verrückt geworden sein. Wie konnte ich mich bloß darauf einlassen«, jammerte sie aufgelöst. Sie zitterte am ganzen Körper, als ihr bewusst wurde, in welche Gefahr sie sich freiwillig begeben hatte.
Wütend trommelte sie mit den Fäusten gegen Lorenzos Brust. »Vertrau mir«, äffte sie ihn nach. »Ich könnte tot sein! Und was hätte ich dann von dem ganzen Vertrauen?! Kannst du mir das vielleicht verraten?« Zur Abwechslung stocherte sie mit ihrem spitzen Zeigefinger so lange auf seiner Brust herum, bis es ihm zu dumm wurde und er ihre Hand festhielt.
»Ich könnte dir zum Beispiel einen hübschen Grabstein spendieren. Mit der Aufschrift: ›Sie hat mir
Weitere Kostenlose Bücher