Wer braucht schon Zauberfarben?
er krallt sich grob mein Kinn und zwingt mich, ihn wieder anzusehen. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich kann hier drin nicht zaubern.
Er mustert mich intensiv. Dabei nähert sich sein Kopf meiner Wange. Im nächsten Augenblick flüstert er mir: „Schon bald gehörst du mir“ ins Ohr.
Bevor ich ihm den frechen Kommentar, den ich parat hatte entgegenspeien kann, presst er seine Lippen auf die meinen. Reflexartig beiße ich ihn.
Nadar weicht zurück, fasst sich an die Lippe und lächelt beim Anblick des Blutes an seiner Hand. Ich fass es nicht, dass er mich gegen meinen Willen geküsst hat.
Von oben herab erklärt er: „Wenn ich erst dein Ehemann bin, werde ich dich Gehorsam lehren. Mit meiner Faust und auch mit meiner Peitsche.“ Mein zukünftiger Ehemann ist also ein Schlägertyp. Tolle Aussichten, nebenbei bemerkt.
Sein fieses Lachen hallt sogar noch in meinem Kopf nach, da ist er bereits minutenlang weg. Netterweise hat er seine Jacke mitgehen lassen.
Erschöpft lehne ich den Kopf an die Mauer. Was für ein Alptraum.
Als die Türe aufgerissen wird, schrecke ich hoch. Hab ich geschlafen? Nein. Oder doch? Ich weiß es nicht.
„Raven?“ Mein Bruder steht vor mir. Ich bin so erschöpft, dass ich kaum die Augen offenhalten kann. Hier ist es so kalt. Mein Kleid vermag mich kaum zu wärmen.
„Artis?“, hauche ich.
Ich spüre, dass mir mein Bruder einen Becher mit einer Flüssigkeit einflößt, die ich vor Durst ohne Gegenwehr meine Kehle hinablaufen lasse.
Mein Körper wird hochgehoben. Immer wieder verschwimmt mein Blick, als wären meine Sinne unter einer Nebelwand verborgen.
Kalter Stein gräbt sich in meinen Rücken. Ich erkenne in Kapuzen eingehüllte Gestalten über mir. Je einer von ihnen zwängt einen meiner Arme oder Beine in Eisenschellen fest. Ich kann mich nicht mal wehren, muss es tatenlos geschehen lassen.
Mein Vater beugt sich über mich. Er haucht mir Worte ins Ohr, die ich nicht verstehen kann. Ich will mich dagegen wehren, schaffe es aber nicht. Das ist wohl die schwarze Hexentaufe, die er gegen meinen Willen durchführt.
Meine Kleider werden zerrissen. Jemand beginnt, mich zu tätowieren. Hey warte, mich haben doch noch gar keine Symbole erwählt. Mein stiller Protest ist natürlich nicht von Erfolg gekrönt. Den stechenden Schmerz bekomme ich nur unterschwellig mit. Ich bäume mich auf, werde aber auf den nackten Stein zurückgedrückt.
Wenn ich jetzt ohnmächtig werde, reißt mir mein Vater die weißen Kräfte heraus und ersetzt sie gegen die schwarzen. Ich habe Angst vor der schwarzen Magie. Was, wenn sie mich zu etwas macht, das ich nicht sein will? Was, wenn sie mein Denken verändert?
Die Männer murmeln irgendwelche lateinischen Worte vor sich hin. Plötzlich werden meine Fesseln gelöst. Ich werde auf den Bauch gedreht und abermals festgebunden. Der Stein ist so kalt, dass ich keuche.
Der Tätowierer bearbeitet nun meinen Rücken. Mit übermenschlicher Kraft versuche ich, die Schmerzen auszuhalten. Er ist grob, nicht so wie Galahad, der behutsam vorgegangen ist. Ich habe das Gefühl, als würde er mir die Zeichen tiefer in die Haut bohren.
Dass ich erneut umgedreht werde, muss ich abermals wehrlos über mich ergehen lassen.
Auch als mein Vater mir mit seinem Blut Runen auf die Haut zeichnet, bin ich wie in einem Bann. Nadar hält mir den Mund zu. Seine Berührungen sind mir unangenehm. Mein Bruder streichelt meine Hand.
Plötzlich spüre ich eine Kraft, die an mir zerrt. Sie will mir meine weiße Magie entreißen. Schnell ordne ich meine Gedanken. Versuche, an das Gute in mir zu denken. An die Erinnerungen mit Junus – an seine Liebe, die ich erfahren durfte. Mit aller Kraft halte ich daran fest. Mein Vater brüllt. Im nächsten Moment fühlt es sich so an, als würde plötzlich etwas in mir entzweireißen. Neeeeeeeein.
Ich werde auf den Stein gedrückt. Eine neue Magie flutet mich. Viel stärker, als ich es jemals gespürt habe, schwappt sie über meinen Körper.
Panisch reiße ich die Augen auf. Mein Vater zieht mich vom Stein. „Erhebe dich, schwarze Hexe“, verlangt er. Eigenartigerweise fühle ich mich erneut wie neu geboren, obwohl mein Körper an den Stellen schmerzt, die sie tätowiert haben. Es ist ein gutes Gefühl. Hey, und ich bin noch die Alte würd ich sagen.
Mein Vater küsst mich auf die Stirn und zieht mich mit sich. Ich folge ihm, weil ich ihn liebe. Er ist mein Vater. Nie könnte ich Hass für ihn empfinden.
Feine schwarze Seide
Weitere Kostenlose Bücher