Wer einmal lügt
Männer, die ihre Frauen oder Freundinnen misshandeln. Und Mardi Gras gehört da auch noch irgendwie mit rein. An dem Tag hat das Ganze angefangen. Also weite die Suche etwas aus und prüfe, ob rund um Mardi Gras noch mehr Männer vermisst wurden.«
»Okay.«
»Eine Sache hat allerdings Vorrang. Das FBI holt an der Eisenerzmine gerade die Leichen aus dem Brunnen. Die werden deine Hilfe bei der Identifizierung brauchen.«
Damit hatte Erin gerechnet. »Kein Problem. Ich klär noch ein paar Details, dann schick ich ihnen die Namen. Was hast du vor?«
»Ich fahre mal kurz bei Ray Levines Wohnung vorbei, aber dann muss ich mit Sarah sprechen, bevor irgendwelche Journalisten sich bei ihr melden.«
»Das wird bestimmt unangenehm«, sagte Erin.
»Vielleicht ist sie auch froh, dass alles vorbei ist.«
»Meinst du?«
»Nein.«
Schweigen.
Erin kannte ihn. Sie wechselte den Hörer ans andere Ohr und sagte: »Alles in Ordnung, Broome?«
»Mir geht’s gut.«
Lügner. »Willst du vorbeikommen, wenn du das erledigt hast?«
»Nein, lieber nicht.« Dann: »Erin?«
»Ja.«
»Erinnerst du dich an unsere Flitterwochen in Italien?«
Es war eine seltsame Frage, die völlig unvermittelt kam, aber inmitten der vielen Toten musste Erin doch lächeln. »Klar.«
»Danke dafür.«
»Wofür?«
Aber er hatte schon aufgelegt.
FÜNFUNDDREISSIG
L ucy, der Elefant, war schon geschlossen. Ray wartete, bis der letzte Wachmann gegangen war. Im Ventura’s Greenhouse gegenüber herrschte wieder einmal Hochbetrieb. Dadurch war es schwierig, von dieser Seite ungesehen in Lucy hineinzukommen. Ray ging außen um sie herum bis zum üblichen Punkt am Andenkenladen und sprang dort über den Zaun.
Damals, vor vielen Jahren, als Cassie sich von ihrem Exfreund heimlich den Schlüssel geborgt hatte, hatte sie auch für Ray einen Nachschlüssel machen lassen. Er hatte ihn zwar die ganze Zeit behalten, wusste aber schon, dass er nicht mehr passte. Das machte ihm nichts. Lucy hatte eine Tür in jedem ihrer dicken Hinterbeine. Die eine war der Besuchereingang. Die andere war nur mit einem Vorhängeschloss gesichert. Ray nahm einen schweren Stein und zerschmetterte es mit einem kräftigen Schlag.
Mit Hilfe der kleinen Taschenlampe an seinem Schlüsselbund ging Ray die Wendeltreppe hinauf in den Bauch des gigantischen Tieres. Das Innere war ein gewölbter Raum, der an eine kleine Kirche erinnerte. Die Wände waren in einem seltsamen Rosa gestrichen, das angeblich anatomisch korrekt der Farbe des Verdauungstrakts eines Elefanten entsprach. Ray war bereit, das unbesehen zu glauben.
Früher hatten sie unten in einem Einbauschrank einen Schlafsack versteckt gehabt. Offenbar war dieser Schrank bei einer Renovierung entfernt worden. Ray fragte sich, ob jemand den alten Schlafsack entdeckt hatte, und überlegte, was diese Person wohl davon gehalten und damit gemacht hatte – dann fragte er sich, warum ihn das beschäftigte, warum er über einen solchen Unsinn nachdachte, während seine ganze Welt gerade über ihm zusammenstürzte.
Es war dumm gewesen hierherzukommen.
Seit siebzehn Jahren war er nicht mehr in diesem sechsstöckigen Dickhäuter gewesen, aber wenn diese Magenwand reden könnte … Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Warum nicht? Wieso denn nicht, zum Teufel nochmal? Er hatte sich schließlich lange genug gequält. Auch die schreckliche Nacht machte ihm schon wieder zu schaffen, und er konnte nichts dagegen tun. Er hatte wirklich schlechte Zeiten vor sich, warum also sollte er sich die schönen Erinnerungen an die tollen Nächte verbieten? Und hatte nicht sein Vater schon gesagt, dass es ohne Täler keine Höhen, ohne rechts kein links gab – und dass man ohne das Wissen um die schlechten Zeiten auch die guten nicht genießen konnte?
Hier saß er also, im Inneren der Bestie, und wartete auf die einzige Frau, die er je wirklich geliebt hatte.Und ihm wurde bewusst, dass er in den letzten siebzehn Jahren praktisch keine guten Zeiten erlebt hatte. Nur schlechte. Erbärmlich. Erbärmlich und dumm.
Was hätte sein Vater dazu gesagt?
Ein Fehler. Ein Fehler, den er vor siebzehn Jahren gemacht hatte, und er – der unerschrockene Fotojournalist, der kein Problem damit hatte, in einem Feuersturm an der Front zu arbeiten – hatte sich von diesem Fehler zerstören lassen. Aber so war das Leben nun einmal, oder? Timing. Entscheidungen. Glück.
Er jammerte über Dinge, die sich nicht mehr ändern ließen. Wie betörend.
Ray ging die
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