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Wer einmal lügt

Wer einmal lügt

Titel: Wer einmal lügt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Wendeltreppe weiter hinauf bis zur Aussichtsplattform auf Lucys Rücken. Die frische Nachtluft wehte als kräftige Brise zu ihm herüber. Sie roch wunderbar nach Salz und Sand. Der Himmel war klar, und die Sterne glitzerten über dem Atlantik.
    Der Ausblick war einfach atemberaubend. Ray nahm seine Kamera und fing an, Fotos zu machen. Schon faszinierend, dachte er, womit man leben konnte – und ohne was man nicht leben konnte.
    Als er mit dem Fotografieren fertig war, setzte er sich draußen in die Kälte, wartete und überlegte – noch so ein Was-Wäre-Wenn –, ob sich wieder alles ändern würde, wenn er Megan die Wahrheit sagte.
    Als der Arzt Megans Arm verband, scherzte er, dass er als Jugendlicher in einer Metzgerei gearbeitet und Hackfleisch verpackt hätte. Megan verstand ihn. Der Arm war, um es vorsichtig auszudrücken, eine Katastrophe.
    »Der wird aber wieder«, sagte der Arzt.
    Trotz des Morphins spürte sie das Pochen im Arm. Ihr Kopf schmerzte auch, wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Sie richtete sich im Bett auf.
    Dave saß im Wartezimmer, während Megan im Krankenbett vernommen wurde. Die Polizistin – sie hatte sich als County-Ermittlerin Loren Muse vorgestellt – hatte sich erstaunlich vernünftig verhalten. Sie hatte Megan geduldig zugehört, als die erklärte, was passiert war, und dabei nicht ein einziges Mal auch nur eine Augenbraue hochgezogen – obwohl die Geschichte völlig verrückt klang. »Ja, wissen Sie, und als ich dann aus dem Altenheim gekommen bin, hat sich diese jugendlich gekleidete Blondine mit dem Messer auf mich gestürzt … Nein, ihren Namen weiß ich nicht … Nein, ich weiß nicht, wer sie ist oder warum sie mich umbringen wollte, außer, na ja, ich habe sie gestern Abend vor Harry Suttons Kanzlei gesehen …«
    Muse hörte ihr mit unbewegter Miene zu und unterbrach sie fast gar nicht. Sie stellte keine herablassenden Zwischenfragen und quittierte ihre Aussagen auch nicht mit zweifelnden Blicken. Als Megan fertig war, rief Muse Broome in Atlantic City an, um sich die Geschichte bestätigen zu lassen.
    Jetzt, ein paar Minuten später, klappte Muse ihr Notizbuch zu. »Okay, das reicht mir für heute. Sie müssen ziemlich erschöpft sein.«
    »Das können Sie sich gar nicht vorstellen.«
    »Ich werde versuchen, die Blondine identifizieren zu lassen. Was meinen Sie, können wir uns morgen weiter unterhalten?«
    »Natürlich.«
    Muse stand auf. »Passen Sie auf sich auf, Megan.«
    »Danke. Würden Sie mir einen Gefallen tun?«
    »Der wäre?«
    »Würden Sie den Arzt bitten, meinen Mann zu mir reinzuschicken?«
    Muse lächelte. »Wird gemacht.«
    Als sie allein war, sank Megan wieder auf das Kissen. Ihr Handy lag neben ihr auf dem Nachttisch. Sie überlegte, ob sie Ray eine SMS schicken sollte, dass sie nicht kam – und auch später nicht kommen würde –, fühlte sich aber zu schwach.
    Kurz darauf trat Dave ins Zimmer. Er hatte Tränen in den Augen. Die Erinnerung an einen früheren Krankenhausaufenthalt schoss Megan durch den Kopf und beunruhigte sie so sehr, dass sie kaum Luft bekam. Kaylie war fünfzehn Monate alt und hatte gerade angefangen zu laufen. Sie waren mit ihr zum Thanksgiving-Dinner zu Agnes und Roland gefahren und saßen alle zusammen in der Küche. Agnes hatte Megan gerade eine Tasse Tee gereicht, worauf sie sich umdrehte und Kaylie oberhalb der Kellertreppe herumlaufen sah. Wie sie später feststellten, hatte Roland das Schutzgitter nicht richtig eingebaut. Mit wachsendem Schrecken musste sie zuschauen, wie es langsam nachgab und Kaylie anfing, die Betontreppe herunterzupurzeln.
    Noch jetzt, vierzehn Jahre später, spürte Megan die mütterliche Panik. Sie erinnerte sich, wie sie in jenem Sekundenbruchteil das Unausweichliche vor Augen hatte. Die Kellertreppe war steil und hatte harte Stufen. Ihr Baby würde mit dem Kopf zuerst auf dem Beton landen. Megan konnte nichts tun, um das zu verhindern – sie war zu weit weg. Mit der Teetasse in der Hand saß sie wie erstarrt am Tisch und sah ihr Baby fallen.
    Den nächsten Moment würde sie nie vergessen. Dave, der neben ihr gesessen hatte, hechtete auf das offene Kellertor zu. Er hechtete. Als wäre der Boden ein Swimmingpool. Ohne jedes Zögern oder auch nur die Zeit, bewusst einen Gedanken zu fassen. Dave war nie wirklich sportlich gewesen und hatte keine großartigen Reflexe. Er war auch nicht besonders schnell oder gewandt, trotzdem hechtete er mit einer Geschwindigkeit über den Linoleumfußboden,

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