Wer einmal lügt
Broome sie in den letzten siebzehn Jahren nicht hatte finden können, wenn sie sich kaum verändert hatte. Aber in Wahrheit war es viel einfacher zu verschwinden, als die meisten Menschen glaubten. Selbst Rudy hatte damals nicht ihren richtigen Namen gekannt. Broome hatte ihn schließlich herausbekommen: Maygin Reilly. Doch weiter war er dann nicht mehr gekommen. Sie hatte sich eine neue Identität beschafft, und obwohl sie natürlich gesucht wurde, hatte es nicht zu einer landesweit ausgeschriebenen Fahndung oder einem Bericht in Americas Most Wanted oder einer ähnlichen Sendung gereicht.
Die andere Veränderung bestand darin, dass sie wohlhabender und deutlich – in Ermangelung eines anderen Begriffs – normaler als früher aussah. Im Prinzip konnte eine Stripperin auch in Straßenkleidung stecken, trotzdem erkannte man sie fast auf den ersten Blick als Stripperin. Bei Spielern war es genauso wie auch bei Trinkern und – tja – bei Bullen. Doch Cassie sah aus wie eine typische Vorstadt-Mom. Durchaus wie eine, die Spaß verstand, die immer alles gab, die flirtete, wenn sie in Stimmung war, oder die sich etwas zu nah herüberbeugte, wenn sie beim Straßenfest ein paar Drinks intus hatte. Aber trotz allem eine Vorstadt-Mom.
Sie setzte sich neben ihn, drehte sich um und sah ihm in die Augen.
»Schön, Sie mal wiederzusehen, Detective.«
»Geht mir genauso. Ich habe Sie gesucht, Cassie.«
»Das ist mir zu Ohren gekommen.«
»Siebzehn Jahre.«
»Fast so lange wie Valjean und Javert«, sagte sie.
»Aus Les Miserables.«
»Sie haben Victor Hugo gelesen?«
»Nee«, sagte Broome. »Meine Ex hat mich ins Musical geschleppt.«
»Ich weiß nicht, wo Stewart Green ist«, sagte sie.
Cool, dachte Broome. Sie übersprang das Vorgeplänkel. »Sie haben schon gehört, dass er am gleichen Tag wie Sie verschwunden ist?«
»Ja.«
»In dieser Zeit, als Sie beide verschwunden sind, hatten Sie eine Affäre miteinander, oder?«
»Nein.«
Broome breitete die Arme aus. »Das hat man mir so gesagt.«
Sie lächelte kurz, und Broome erkannte das heiße Mädchen von damals. »Wie lange leben Sie schon in Atlantic City, Detective?«
Er nickte, wusste, worauf sie hinauswollte. »Seit vierzig Jahren.«
»Dann wissen Sie, wie das läuft. Ich war keine Prostituierte. Ich habe in den Clubs gearbeitet und hatte Spaß daran. Und ja, eine Weile war Stewart Green ein Teil dieses Spaßes. Ein kleiner Teil. Aber am Ende hat er alles kaputt gemacht.«
»Den Spaß?«
»Alles«, sagte sie. Ihr Mund nahm einen harten Zug an. »Stewart Green war ein Psychopath. Er hat mich ununterbrochen belästigt. Er hat mich geschlagen und gedroht, mich umzubringen.«
»Warum?«
»Welchen Teil des Worts ›Psychopath‹ haben Sie jetzt nicht verstanden?«
»Dann sind Sie eine Psychiaterin geworden, Cassie?«
Wieder lächelte sie kurz. »Man braucht ebenso wenig Psychiater zu sein, um einen Psychopathen zu erkennen«, wandte sie ein, »wie man Bulle sein muss, um einen Mörder zu erkennen.«
»Touché«, sagte Broome. »Aber wenn Stewart Green so verrückt war, wie konnte er das dann verbergen?«
»Wir alle stellen für verschiedene Personen verschiedene Dinge dar.«
Broome runzelte die Stirn. »Da machen Sie es sich aber ein bisschen einfach, oder?«
»Finden Sie?« Sie dachte darüber nach. »Ich habe einmal gehört, wie ein Kerl einem Freund einen Rat bezüglich einer Frau gegeben hat, mit der jener sich verabreden wollte. Sie wirkte äußerlich ganz normal, war innerlich aber extrem angespannt. Wissen Sie, was ich meine?«
»Ja.«
»Der Kerl hat also zu seinem Freund gesagt: ›Die Alte ist völlig abgedreht. Lass lieber die Finger von ihr, wer weiß, in was für einen Strudel du sonst reingezogen wirst.‹«
Broome gefiel das Bild. »Aber genau das ist Ihnen mit Stewart passiert?«
»Zu Anfang hat er, wie schon gesagt, einen ziemlich coolen Eindruck gemacht. Aber mit der Zeit wurde er immer besessener. Bei manchen Menschen ist das wohl einfach so. Bis dahin war es mir immer gelungen, mich mit irgendwelchen Sprüchen aus solchen Situationen rauszureden. Bei ihm nicht. Na ja, ich hab ja nach seinem Verschwinden all die Artikel gelesen, in denen stand, was für ein wunderbarer Familienmensch er war, wie toll er sich um seine Frau gekümmert hat, als sie an Krebs erkrankt war, und wie sehr ihn seine kleinen Kinder vermissen. Ich hatte schon einiges erlebt bei meiner Arbeit da im Club, und ich habe die verheirateten Männer nicht
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