Wer fuerchtet sich vor Stephen King
Läutete die Internet-Veröffentlichung von „Riding the Bullet“ das Ende des traditionellen Verlagsgeschäfts ein? Vielleicht sogar das Ende des Buches als solches?
Der Sturm im Wasserglas legte sich schnell wieder. Der Hype hielt nicht lange an, und die Verlagsbranche überlebte das Experiment nicht nur, sondern profitierte sogar davon. Noch im gleichen Jahr erschien „Riding the Bullet“ in Deutschland als eigenständige Buchausgabe mit 95 sehr, sehr groß gedruckten Seiten, und zwei Jahre später wurde die Story in Kings Kurzgeschichtensammlung EVERYTHING’S EVENTUAL veröffentlicht, ohne dass noch jemand davon großartig Notiz nahm.
King hatte immerhin einen beträchtlichen Achtungserfolg gelandet – einen, mit dem er sich noch nicht zufrieden geben wollte.
„The Plant“ ist einer der seltensten King-Texte überhaupt. Es handelt sich dabei um drei Teile (1982, 1983, 1985) eines dann vom Autor abgebrochenen Romans, der ausschließlich in Form von Briefen, Tagebucheintragungen und innerbetrieblicher Mitteilungen von einem Angestellten eines ziemlich darniederliegenden Verlags berichtet, der das Manuskript TRUE TALES OF DEMON INFESTATIONS angedient bekommt und feststellt, dass es Fotos enthält, die ein tatsächliches Menschenopfer zeigen könnten. Der Lektor benachrichtigt die Polizei, die Fotos stellen sich als Fälschungen heraus, und der Autor schwört dem Lektor Rache. Eines Tages trifft im Verlag eine seltsame Pflanze ein, die der Autor in spe geschickt hat …
An dieser Stelle bricht die Erzählung erstmals ab. King hat die drei bislang vorliegenden Kapitel von „The Plant“ jeweils als Weihnachtsgeschenk an Bekannte verschickt; von jeder Folge sind lediglich 226 Exemplare bekannt, so dass die kleinen Broschüren auf dem Sammlermarkt – falls sie denn einmal angeboten werden – exorbitante Preise von bis zu 3000 Dollar erzielen.
King bot noch im Jahr 2000 an, „The Plant“ ebenfalls über das Internet allgemein zugänglich zu machen. Der Deal: Er setzte die einzelnen Teile verschlüsselungsfrei auf seine Homepage, so dass jeder sie herunterladen konnte. Pro Teil und Kunde verlangte er einen Dollar; falls mehr als 75 Prozent der Leser sich an die Abmachung hielten und den Dollar bezahlten, würde King den Roman sogar fortsetzen und neue Teile ins Netz stellen.
Das Experiment gelang. Über 150.000 Leser luden das erste Kapitel herunter, und über 75 Prozent überwiesen den verlangten Dollar.
Da die nächsten Kapitel wesentlich länger waren, erhöhte King von der vierten Folge an den Preis auf zwei Dollar. In den nächsten Teilen brachte er einen bekannten General ins Spiel, der ebenfalls Groll gegen den Verlag hegte, da der ein völlig unbrauchbares Manuskript von ihm abgelehnt hatte. Die beiden setzen nun unabhängig voneinander zu einem Rachefeldzug an und brechen schließlich in die Verlagsräume ein. Aber da ist ja noch die Pflanze, die gewachsen und gediehen ist … und dem darbenden Verlag vielleicht eine glorreiche Zukunft bescheren wird.
Hier brach King den Roman erneut ab. Er brachte die Handlung zu einem gewissen Abschluss, so dass der Text sich durchaus als Novelle lesen lässt. Als offiziellen Grund gab er an, dass die Bezahlrate unter 50 Prozent gesunken war; in einem Interview im Februar 2006 bezeichnete er die Geschichte allerdings als Fehlschlag und meinte, er werde sie wohl nicht fortsetzen. Vielleicht hat er das Interesse verloren, vielleicht war der Verwaltungsaufwand zu groß – immerhin haben zum Schluss noch über 40.000 Leser treu ihre zwei Dollar überwiesen. Und für insgesamt 7,50 Dollar erhielt der Leser immerhin 270 Seiten, den kompletten Text von THE PLANT, PART ONE: ZENITH RISING. Natürlich waren die Leser nicht begeistert, keinen vollständigen Roman zu erhalten, aber davor hatte King von Anfang an gewarnt.
Bis zum nächsten Internet-Experiment Kings sollten acht Jahre vergehen. Vom 28. Juli bis 29. August 2008 erschien – noch vor der Erstveröffentlichung in der Sammlung SUNSET – in 25 Folgen eine Comic-Adaption der Story „N.“ als „animierte Comic-Miniserie“ im Internet. In einer Zusammenarbeit der Verlage Scribner, Simon & Schuster Digital, Marvel Entertainment sowie CBS Mobile wurde die damals schon fertiggestellte Comic-Adaption „animiert“ und mit Musik unterlegt; die Texte wurden gesprochen. Man konnte sich die 25 jeweils etwa anderthalb Minuten langen Episoden online auf dem Computer oder dem Handy ansehen oder auf iTunes
Weitere Kostenlose Bücher